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Wie kann in Zukunft die Gesundheits-, Pflege- und Versorgungssicherheit in ländlichen Regionen aussehen? Vier Gesundheitskioske in der Region Seltenrain in Thüringen stehen für einen sozialen Ansatz der Daseinsvorsorge.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Alles begann mit der Stiftung Landleben, die von der Agrargenossenschaft der Region gegründet wurde, um ihre Region »als lebens- und liebenswerte Heimat zu erhalten und zu gestalten«.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Mit dem Landesprogramm AGATHE kann der an die Stiftung angeschlossene Verein Landengel die Versorgung der älteren Bevölkerung sicherstellen. Doch die Fahrtwege für die Kümmer:innen sind lang auf dem Land, und es fehlt generell an sozialen Treffpunkten für alt und jung. Wie wieder Anschluss finden?
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Um dem Engagement der Akteur:innen vor Ort Strahlkraft zu verleihen und Wege zu vereinfachen, sollte  ein neues Leitsystem der Daseinsvorsorge entstehen. Die Idee von Gesundheitskiosken, welche an die zentralen Bushaltestellen des Dorfes angegliedert sind, entstand in Dorfgesprächen unter Leitung der IBA.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Die Gesundheitskioske sind als multifunktionale Kleinstarchitekturen mit Bushaltestelle ein räumlich sichtbares Leitsystem für eine deutschlandweit neue Infrastruktur. Das Design-Manual erarbeitete PASEL-K Architects aus Berlin.
© PASEL-K Architects, Berlin
Auch dank Förderungen des Landes Thüringen konnte der Bau von vier Gesundheitskiosken 2021 starten.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Die maximal 25 Quadratmeter großen Kioske sind eine architektonische Familie, die trotz unterschiedlicher Standorte ein zusammenhängendes Ganzes bildet.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Die Kioske wurden mit unterschiedlichen Holzkonstruktionen gebaut und erneuerbare Strom- und Wärmeversorgung (Infrarotheizung) wurden realisiert. Grundprämissen waren ressourcensparendes Bauen und Zirkularität.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Um beispielhafte Varianten des Holzbaus abzubilden, wurde mit Dach- und Wandaufbauten und Fassadenkonstruktionen gleichermaßen experimentiert. Angeschlossene Ladestationen für E-Bikes und E-Autos sollen das Mobilitätsangebot der Region verbessern.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Der erste Gesundheitskiosk konnte im November 2022 unter Teilnahme des Thüringer Ministerpräsidenten in Urleben eröffnet werden.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Es folgte die Fertigstellung des Gesundheitskiosks in Kirchheilingen, wo die Stiftung Landleben ihren Sitz hat.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Die Bevölkerung kann sich in den Kiosken zu gesundheitlichen und sozialen Belangen beraten lassen und muss dank Telemedizin für Untersuchungen nicht mehr weit fahren. 
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
So können auch Bewohner:innen anderer Gemeinden am Vorsorgeangebot partizipieren.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Im Juli 2023 wurde der Gesundheitskiosk in Blankenburg eröffnet.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller
Auch der Gesundheitskiosk in Bruchstedt konnte im Sommer 2023 eröffnet werden.
© Stiftung Baukultur Thüringen/IBA Thüringen, Foto Thomas Müller

Gesundheitskioske Dorfregion Seltenrain

⸺ Kooperative Vorsorge auf dem Land

Ländliche Räume haben im öffentlichen und politischen Diskurs an Aufmerksamkeit und Bedeutung gewonnen. Das liegt nicht nur an raumbezogenen Unterschieden wie fehlenden Arztpraxen, reduzierten öffentlichen Mobilitätsangeboten und weiten Wegen, sondern auch an engagierten Akteur:innen, die auf gute Ideen kommen, sich in Vereinen, Stiftungen oder Genossenschaften organisieren, Eigenkapital und Eigenleistung einbringen und so die Lebensqualität für sich und andere mitgestalten. Sie schaffen etwas, das unsere Gesellschaft dringend braucht: einen optimistischen Blick in die gemeinsame Zukunft. So auch in der Region Seltenrain im landwirtschaftlich geprägten Thüringer Becken.
 
In einer gemeindeübergreifenden Zusammenarbeit entsteht hier ein gemeinsames Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsnetzwerk in Blankenburg, Bruchstedt, Kirchheilingen, Sundhausen, Tottleben und Urleben. Damit ist ein Kernthema des ländlichen Raumes angesprochen, nämlich wie man Versorgungssicherheit gewährleistet und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt organisiert. Im Rahmen der IBA Thüringen werden dazu vier Gesundheitskioske in einer zeitgenössischen Holzbauweise errichtet, sie befinden sich in zentraler Ortslage, stets am Standort der Bushaltestellen. Das Konzept zielt darauf, nicht nur Gesundheitsdienstleistungen anzubieten, sondern soziale Isolation zu vermeiden und Pflege, Altenhilfe und das Wohlfahrtswesen in ländlichen Regionen zu vereinen. All das leisten die Gemeinden kooperativ, getragen von der Stiftung Landleben und ihrem Verein, dem Landengel e. V.

Die Akteur:innen ringen dabei mit einem nicht zu erschütternden Elan um diese neuen Organisationsformen im regionalen Verbund und einer keineswegs trivialen institutionellen, organisatorischen und finanziellen Struktur. Aus einem gemeindeübergreifenden Entwicklungskonzept erwuchs so unter dem Engagement der ansässigen Agrargenossenschaft gemeinsam mit den Gemeinden 2011 zunächst die Stiftung Landleben. Die Schule neu eröffnen, das Freibad erhalten, Fahrdienste anbieten oder Wohnangebote für ältere Bewohner:innen schaffen — als das steht auf ihrem Programm und wird bereits erfolgreich umgesetzt. Nicht ohne Grund wurden die Stiftung Landleben und ihr Vorsitzender, Frank Baumgarten, für dieses Engagement schon mehrfach ausgezeichnet.
Im Jahr 2017 gründete die Stiftung den Landengel e. V., der sich seitdem unter dem Vorsitz von Christopher Kaufmann um die übergemeindliche Pflege- und Gesundheitsversorgung kümmert. Im Mittelpunkt des Vorhabens stehen nicht nur die Dorfbewohner:innen als Patient:innen, sondern auch als Bürger:innen mit ihren Bedürfnissen nach Beratung, Austausch und Treffpunkten. Das Vorhaben hat bislang 21 Partner:innen, der Verein 305 Mitglieder. Über das Vorsorgeprogramm AGATHE des Freistaates Thüringen wird die Betreuung unterstützend organisiert. Seit Januar 2019 gibt es die erste Ansprechpartnerin (eine Gemeindeschwester im weiteren Sinne), die mit und für die Menschen aus der Region arbeitet, seit 2022 sind bereits vier tätig. Sie führen regelmäßige Sprechstunden in den Dörfern durch und erarbeiten Lösungen für Probleme in den Bereichen Gesundheitsvorsorge, Mobilität, Wohnen und Pflege, zudem leisten sie Unterstützung bei bürokratischen Hindernissen. Mit diesem Angebot werden sukzessive bürgernahe Gesundheitsangebote etabliert und etwa 600 Menschen je Quartal beraten. Ein Vereinsbus wurde als ergänzende Maßnahme integriert, um Fahrangebote, beispielsweise zu Arzt- und Therapieterminen, zu übernehmen.
Um dieser neuen sozialen Infrastruktur als ein Leitsystem räumlich und gestalterisch ein Gesicht zu geben, machten sich die Akteur:innen gemeinsam mit der IBA Thüringen parallel auf den Weg. Es entstand die Idee von Gesundheitskiosken, ausgeführt als kleine, vielfältig nutzbare und schnell beheizbare Räume in Ergänzung der Funktion als Bushaltestelle. So können auch Bewohner:innen anderer Gemeinden am Vorsorgeangebot partizipieren.

Im Auftrag der IBA Thüringen erarbeitete daraufhin PASEL-K Architects aus Berlin im Jahr 2019 ein Design-Manual, das die maximal 25 Quadratmeter großen Kioske als architektonische Familie begreift, die trotz unterschiedlicher Standorte ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Sie dienen jeweils als Beratungsraum genauso wie als zuschaltbarer Wartebereich für den Bus, eine Toilette ist integriert. Als hochwertige Holzkonstruktion mit erneuerbarer Strom- und Wärmeversorgung (Infrarotheizung) ausgeführt, erfolgt die Bauweise je Standort und Gemeinde individuell, um gleichzeitig neue Wege Thüringer Holzbaukulturen vorzustellen und zu vermitteln. Die Gemeinden stellen dazu die Grundstücke der Bushaltestellen in Erbbaupacht zur Verfügung. Um beispielhafte Varianten des Holzbaus abzubilden, wurde mit Dach- und Wandaufbauten und Fassadenkonstruktionen gleichermaßen experimentiert. Als unbehandelte Holzbauten wie auch hinsichtlich ihrer geplanten Versorgung mit Solarenergie sind die Gesundheitskioske klimaneutral. Angeschlossene Ladestationen für E-Bikes und E-Autos sollen das Mobilitätsangebot der Region verbessern. Die mit Holzwolle oder Einblaszellulose gedämmten Versuchsbauten sind aber insbesondere unter sozialen Aspekten nachhaltig, da sie im Prozess verschiedene lokale Akteur:innen in zahlreichen kollaborativen Formaten in die Umsetzung einbinden — vom offenen Baubüro über die Beteiligung der lokalen Handwerker:innen bis hin zum gemeinsamen Aufbau. Der experimentelle Charakter des Vorhabens dient damit der Entwicklung von prototypischen Bauten einerseits und der Entwicklung neuer Kooperationen andererseits.
 
Der erste Kiosk wurde im November 2022 in Urleben eröffnet, Kirchheilingen folgte kurz darauf. 2023 wurden alle vier Kioske fertiggestellt. Es soll außerdem ein telemedizinisches Angebot bereitgestellt werden — zwischen Patient:innen und Fachärzt:innen, betreut von AGATHE und mittels genossenschaftlich organisiertem und frei zugänglichem Internetzugang. Hier pendeln die Daten und nicht die Menschen. Dieses neuartige Netz dezentraler Treffpunkte für Versorgungsfragen und Beratungen wird durch ein zentrales ›Mutterschiff‹, das Landzentrum in Sundhausen, ergänzt und dafür der frühere Dorfkonsum im Rahmen der IBA umgebaut.

Ort

Region Seltenrain


Projektträger:inner

Kooperationspartner:in

Förderung

  • Thüringer Landesamt für Landwirtschaft und Ländlichen Raum: Förderung der integrierten Ländlichen Entwicklung und Revitalisierung von Brachflächen, Einrichtungen für lokale Basisdienstleistungen
  • Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH

Planungsbeteiligte

Meilensteine

30.09.2018

Nominierung zum IBA Kandidat 

10.12.2019

Design-Manual vom Architekturbüro Pasel-K Architects für ›Gesundheitskioske‹ erstellt

02.09.2022

Nominierung zum IBA Projekt

03.11.2022

Gesundheitskiosk Urleben von Ministerpräsident Bodo Ramelow eröffnet

01.03.2023

Aufnahme in die IBA Abschlusspräsentation

26.05.2023

IBA Projekt Gesundheitskioske erhält Belobigung des Deutschen Städtebaupreises 2023

06.07.2023

Feierliche Eröffnung des Gesundheitskiosk in Blankenburg

15.07.2023

IBA Projekt Gesundheitskioske für DAM Preis 2024 nominiert

06.06.2024

Ausgezeichnet mit 1. Architekturpreis der Architektenkammer Thüringen