Gesundheitskioske Dorfregion Seltenrain
⸺ Kooperative Vorsorge auf dem Land
Ländliche Räume haben im öffentlichen und politischen Diskurs an Aufmerksamkeit und Bedeutung gewonnen. Das liegt nicht nur an raumbezogenen Unterschieden wie fehlenden Arztpraxen, reduzierten öffentlichen Mobilitätsangeboten und weiten Wegen, sondern auch an engagierten Akteur:innen, die auf gute Ideen kommen, sich in Vereinen, Stiftungen oder Genossenschaften organisieren, Eigenkapital und Eigenleistung einbringen und so die Lebensqualität für sich und andere mitgestalten. Sie schaffen etwas, das unsere Gesellschaft dringend braucht: einen optimistischen Blick in die gemeinsame Zukunft. So auch in der Region Seltenrain im landwirtschaftlich geprägten Thüringer Becken.
In einer gemeindeübergreifenden Zusammenarbeit entsteht hier ein gemeinsames Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsnetzwerk in Blankenburg, Bruchstedt, Kirchheilingen, Sundhausen, Tottleben und Urleben. Damit ist ein Kernthema des ländlichen Raumes angesprochen, nämlich wie man Versorgungssicherheit gewährleistet und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt organisiert. Im Rahmen der IBA Thüringen werden dazu vier Gesundheitskioske in einer zeitgenössischen Holzbauweise errichtet, sie befinden sich in zentraler Ortslage, stets am Standort der Bushaltestellen. Das Konzept zielt darauf, nicht nur Gesundheitsdienstleistungen anzubieten, sondern soziale Isolation zu vermeiden und Pflege, Altenhilfe und das Wohlfahrtswesen in ländlichen Regionen zu vereinen. All das leisten die Gemeinden kooperativ, getragen von der Stiftung Landleben und ihrem Verein, dem Landengel e. V.
Die Akteur:innen ringen dabei mit einem nicht zu erschütternden Elan um diese neuen Organisationsformen im regionalen Verbund und einer keineswegs trivialen institutionellen, organisatorischen und finanziellen Struktur. Aus einem gemeindeübergreifenden Entwicklungskonzept erwuchs so unter dem Engagement der ansässigen Agrargenossenschaft gemeinsam mit den Gemeinden 2011 zunächst die Stiftung Landleben. Die Schule neu eröffnen, das Freibad erhalten, Fahrdienste anbieten oder Wohnangebote für ältere Bewohner:innen schaffen — als das steht auf ihrem Programm und wird bereits erfolgreich umgesetzt. Nicht ohne Grund wurden die Stiftung Landleben und ihr Vorsitzender, Frank Baumgarten, für dieses Engagement schon mehrfach ausgezeichnet.
Im Jahr 2017 gründete die Stiftung den Landengel e. V., der sich seitdem unter dem Vorsitz von Christopher Kaufmann um die übergemeindliche Pflege- und Gesundheitsversorgung kümmert. Im Mittelpunkt des Vorhabens stehen nicht nur die Dorfbewohner:innen als Patient:innen, sondern auch als Bürger:innen mit ihren Bedürfnissen nach Beratung, Austausch und Treffpunkten. Das Vorhaben hat bislang 21 Partner:innen, der Verein 305 Mitglieder. Über das Vorsorgeprogramm AGATHE des Freistaates Thüringen wird die Betreuung unterstützend organisiert. Seit Januar 2019 gibt es die erste Ansprechpartnerin (eine Gemeindeschwester im weiteren Sinne), die mit und für die Menschen aus der Region arbeitet, seit 2022 sind bereits vier tätig. Sie führen regelmäßige Sprechstunden in den Dörfern durch und erarbeiten Lösungen für Probleme in den Bereichen Gesundheitsvorsorge, Mobilität, Wohnen und Pflege, zudem leisten sie Unterstützung bei bürokratischen Hindernissen. Mit diesem Angebot werden sukzessive bürgernahe Gesundheitsangebote etabliert und etwa 600 Menschen je Quartal beraten. Ein Vereinsbus wurde als ergänzende Maßnahme integriert, um Fahrangebote, beispielsweise zu Arzt- und Therapieterminen, zu übernehmen.
Um dieser neuen sozialen Infrastruktur als ein Leitsystem räumlich und gestalterisch ein Gesicht zu geben, machten sich die Akteur:innen gemeinsam mit der IBA Thüringen parallel auf den Weg. Es entstand die Idee von Gesundheitskiosken, ausgeführt als kleine, vielfältig nutzbare und schnell beheizbare Räume in Ergänzung der Funktion als Bushaltestelle. So können auch Bewohner:innen anderer Gemeinden am Vorsorgeangebot partizipieren.
Im Auftrag der IBA Thüringen erarbeitete daraufhin PASEL-K Architects aus Berlin im Jahr 2019 ein Design-Manual, das die maximal 25 Quadratmeter großen Kioske als architektonische Familie begreift, die trotz unterschiedlicher Standorte ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Sie dienen jeweils als Beratungsraum genauso wie als zuschaltbarer Wartebereich für den Bus, eine Toilette ist integriert. Als hochwertige Holzkonstruktion mit erneuerbarer Strom- und Wärmeversorgung (Infrarotheizung) ausgeführt, erfolgt die Bauweise je Standort und Gemeinde individuell, um gleichzeitig neue Wege Thüringer Holzbaukulturen vorzustellen und zu vermitteln. Die Gemeinden stellen dazu die Grundstücke der Bushaltestellen in Erbbaupacht zur Verfügung. Um beispielhafte Varianten des Holzbaus abzubilden, wurde mit Dach- und Wandaufbauten und Fassadenkonstruktionen gleichermaßen experimentiert. Als unbehandelte Holzbauten wie auch hinsichtlich ihrer geplanten Versorgung mit Solarenergie sind die Gesundheitskioske klimaneutral. Angeschlossene Ladestationen für E-Bikes und E-Autos sollen das Mobilitätsangebot der Region verbessern. Die mit Holzwolle oder Einblaszellulose gedämmten Versuchsbauten sind aber insbesondere unter sozialen Aspekten nachhaltig, da sie im Prozess verschiedene lokale Akteur:innen in zahlreichen kollaborativen Formaten in die Umsetzung einbinden — vom offenen Baubüro über die Beteiligung der lokalen Handwerker:innen bis hin zum gemeinsamen Aufbau. Der experimentelle Charakter des Vorhabens dient damit der Entwicklung von prototypischen Bauten einerseits und der Entwicklung neuer Kooperationen andererseits.
Der erste Kiosk wurde im November 2022 in Urleben eröffnet, Kirchheilingen folgte kurz darauf. 2023 wurden alle vier Kioske fertiggestellt. Es soll außerdem ein telemedizinisches Angebot bereitgestellt werden — zwischen Patient:innen und Fachärzt:innen, betreut von AGATHE und mittels genossenschaftlich organisiertem und frei zugänglichem Internetzugang. Hier pendeln die Daten und nicht die Menschen. Dieses neuartige Netz dezentraler Treffpunkte für Versorgungsfragen und Beratungen wird durch ein zentrales ›Mutterschiff‹, das Landzentrum in Sundhausen, ergänzt und dafür der frühere Dorfkonsum im Rahmen der IBA umgebaut.
Ort
Region Seltenrain
Projektträger:inner
Kooperationspartner:in
- Gemeinden Blankenburg, Bruchstedt, Kirchheilingen, Sundhausen, Tottleben und Urleben
- Agrargenossenschaft e. G. Kirchheilingen
- Gesundes Landleben GmbH
- OptiMedis AG
- Partner:innen des Landengel e. V.
Förderung
- Thüringer Landesamt für Landwirtschaft und Ländlichen Raum: Förderung der integrierten Ländlichen Entwicklung und Revitalisierung von Brachflächen, Einrichtungen für lokale Basisdienstleistungen
- Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH
- Architektur: PASEL-K Architects, Berlin
- Gespräch mit Christopher Kaufmann, IBA Magazin 2022, S.16
- Projektpräsentation November 2022
- Interview mit Frank Baumgarten (Stiftung Landleben) und Christopher Kaufmann (Landengel e.V.), IBA Magazin 2022, S.12
- Artikel ›Kooperative Vorsorge auf dem Land‹ von Kerstin Faber in Der Entwurf (2021)
- Artikel ›Gemeinsam Machen - Kooperative Vorsorge auf dem Land‹ im IBA Magazin 2020, S.58
- ›Engagiert fürs Dorf‹, Interview mit Frank Baumgarten im IBA Magazin 2019, S.78
- Design Manual für die Gesundheitskioske, Pasel-K Architects, Stand 2019
- IBA Logbuch, Stand 2019
- Artikel in Planungspraxis regionaler Initiativen und interkommunaler Kooperation - Neue Materialien zur Planungskultur Nr.41
30.09.2018
Nominierung zum IBA Kandidat
10.12.2019
Design-Manual vom Architekturbüro Pasel-K Architects für ›Gesundheitskioske‹ erstellt
02.09.2022
Nominierung zum IBA Projekt
03.11.2022
Gesundheitskiosk Urleben von Ministerpräsident Bodo Ramelow eröffnet
01.03.2023
Aufnahme in die IBA Abschlusspräsentation
26.05.2023
IBA Projekt Gesundheitskioske erhält Belobigung des Deutschen Städtebaupreises 2023
06.07.2023
Feierliche Eröffnung des Gesundheitskiosk in Blankenburg
15.07.2023
IBA Projekt Gesundheitskioske für DAM Preis 2024 nominiert
06.06.2024
Ausgezeichnet mit 1. Architekturpreis der Architektenkammer Thüringen