Multitalent Ossietzky-Hof Nordhausen-Nord
⸺ Aufbruch 1,5 Grad
Wie eine zukunftsfähige Entwicklung von Plattenwohnhöfen aussieht, erproben die Stadt Nordhausen und das städtische Wohnungsunternehmen SWG anhand des Umbaus des Ossietzky-Hofs. Entsprechend des Rahmenplans zum Klimaquartier Nordhausen-Nord sollen mit dem Leitmotiv ›Multitalent‹ die Wohnhöfe des in den 1990er Jahren überwiegend teilsanierten Plattenbaustandortes klimagerecht weiterentwickelt werden, kostengünstige Wohnungen erhalten bleiben und Wohnangebote für neue Bewohner:innen entstehen.
Im Jahr 2018 wurde dazu ein EU-weiter Realisierungswettbewerb für den Ossietzky-Hof durchgeführt, der nach übertragbaren Lösungen suchte, wie sich auf innovative Art und Weise ein klimagerechter Alltag im ausgewählten Modellhof konkret umsetzen lässt. Vergleichbar mit dem beim Neubau des Plattenbauquartiers versprochenen ›Rundumsorglospaket‹, bestehend aus Wohnung, Kleingarten und Garage, sollte nach einem neuen, zeitgemäßen und ressourcenbewussten Gesamtpaket gesucht werden. Gleichzeitig verfolgte das Projekt den Anspruch aufzuzeigen, wie in einer bestehenden Wohninfrastruktur ein bezahlbarer und sozialverträglicher Beitrag zu Energiewende und Klimaschutz leistbar ist. Ziel ist, mindestens 40 Prozent der benötigten Energie für Heizwärme und Warmwasser über die vor Ort verfügbaren erneuerbaren Energien bereitzustellen, die restliche Energie wird weiterhin über das anliegende Fernwärmenetz abgedeckt. Das Projekt erprobt damit das Ineinandergreifen von dezentraler und zentraler Energieversorgung in Bestandsquartieren.
Das bauliche Konzept des wettbewerblichen Siegerentwurfs der ARGE Ossietzky-Hof, einem Zusammenschluss von Architektur- und Ingenieurbüros, formulierte dazu unterschiedliche hochbauliche Ansätze für den Umbau zweier Bestandsgebäude vom Typ WBS 70 in die neuen Identitäten ›Ludwig‹ und ›Sophia‹, bei denen jeweils unterschiedlich tief in die Substanz eingegriffen wird. Das Spektrum der Umbauten reicht von maßvollen Grundrissänderungen zwecks Schwellenfreiheit und Wohnwertsteigerung bis hin zu Gartenräumen mit Pufferzonen. Der Innenhof wird entsiegelt und als biodiverser öffentlicher Erholungsraum angelegt.
Parallel zur Sanierung der WBS-70-Bauten wurde das ehemalige Schwesternwohnheim in Großblockbauweise abgerissen, an dessen Stelle wird der Ersatzneubau ›Franzi‹ als Holz(hybrid)bau angedacht. Nach Umsetzung würde er Katalysator einer neuartigen energetischen Quartiersvernetzung zwischen Ludwig, Sophia und Franzi mit Erdspeicher und Steuerungssystem sein. Das gebäudeübergreifende Energiekonzept soll Betriebskosten sparen, indem die gewonnene Energie nicht in die Netze fließt, sondern direkt von den Mieter:innen nutzbar ist. Das Gleiche gilt für die Wärmerückgewinnung aus der Lüftung: Die Wärme in der aufgeheizten Abluft geht nicht verloren, sondern wird mit Wärmepumpen für warmes Trinkwasser oder Beheizung verwertet. Der Strom wird von einer bis zu 30 Kilowatt leistungsstarken Photovoltaikanlage auf den Dächern für den Betrieb von Hauslüftungs- und Wärmerückgewinnungsanlagen, Wärmepumpen und Ladestationen für Autos und Fahrräder eingesetzt. Das alles geht mit der Zunahme an Komplexität im Betrieb einher: in der Steuerung, im Messdienstleistungsbereich, im Monitoring, in der Prozessoptimierung, im Abrechnungswesen, in der Koordination aller Fachbeteiligten, aber auch bei Versicherungsfragen etc. Wohnungsunternehmen stehen gleichzeitig vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Personalfrage vor einem Dilemma: Nichts tun oder strukturelle Überforderung? Es fehlt eine Instanz als ›Grüne Kümmer:in‹!
Anhand des Ossietzky-Hofs entwickelte das Planungsbüro eZeit Ingenieure aus Berlin federführend das Konzept eines vollintegrierten modularen Versorgungsunternehmens auf Quartiersebene. Dieses Versorgungsunternehmen fungiert als integrierte:r Betreiber:in (Grüne Kümmer:in), übernimmt als Dienstleister:in die Verantwortung für alle benannten Aufgaben von Betrieb bis Abrechnung und versorgt die Nutzer:innen mit grüner bezahlbarer Energie. Wohnungsunternehmen wie die Städtische Wohnungsbaugesellschaft mbH Nordhausen (SWG) können damit eine Ansprechpartner:in für alle Aufgaben und Prozesse der Energieversorgung erhalten. Diese:r integrierte Betreiber:in kann das lokale Stadtwerk sein, geeignet sind aber auch Energieversorger:innen, Energiegenossenschaften oder Energiebetreibergesellschaften. Selbst Einfamilienhausgebiete ließen sich mit einem solchen Ansatz versorgen.
Energetisch ganzheitlich betrachtete Quartiere nehmen eine Schlüsselrolle bei der Energiewende ein: So profitieren Haushalte und besonders solche mit geringem Einkommen von kostengünstiger CO2-neutraler Energie für Heizung, Warmwasser und Strom. Gleichzeitig reduzieren sich der Ressourcen- und Materialeinsatz und die damit verbundenen Kosten erheblich. Die Entwicklung des Ossietzky-Hofs dient hierbei als Blaupause für die Sanierung und den Neubau von Quartieren hin zu energetischer Unabhängigkeit. Das Modell basiert auf den aktuell zur Verfügung stehenden Instrumenten (Gebäudeenergiegesetz, Energiewirtschaftsgesetz, Heizkostenverordnung, Förderinstrumente etc.). Es zeigt neue Wege einer Win-Win-Situation, die im Ergebnis zu einer erheblichen Reduktion von Treibhausgasen führt.
Dies gilt es nicht nur in die Breite zu tragen, vielmehr muss ein Kompetenzaufbau stattfinden, der über Beratung, Bildung und Weiterbildung hinausgeht und im besten Fall weitere Projekte zur Folge hat: Learning by doing. Der Weg hin zu einer ressourcenbewussten Quartiersentwicklung erfordert gleichzeitig, energetische Gesetze und Verordnungen anzupassen, neue Kooperationen für einen integrierten Betrieb (unbürokratisch) zu ermöglichen, Förderinstrumente zu erneuern, Zertifizierungssysteme für Gebäude und Bewertungssysteme von Gebäuden zu überarbeiten und eine neue Basis für die Honorierung der Planungsleistung im Bausektor — von Phase Null bis Phase 10 — zu schaffen. Eine transdisziplinäre Arbeitsweise, die alle wichtigen Fachplanungsleistungen in der frühen Konzept- und Entwurfsentwicklung vereint, ist ein weiterer wichtiger Baustein zur klimagerechten Quartiersentwicklung und sollte auch in Wettbewerbsverfahren berücksichtigt werden.
Schon mit der geplanten Fertigstellung von Ludwig und Sophia soll das Projekt in Nordhausen-Nord bezogen auf den Energieverbrauch und den Ressourceneinsatz einen niedrigen ökologischen Fußabdruck aufweisen. Mehr noch: Der Energieverbrauch und die Abhängigkeit vom Energiemarkt sinken.
Ort
Multitalent Ossietzky-Hof
Dr. Robert-Koch-Str./Carl-von- Ossietzky-Str./Albert-Traeger- Str.
99734 Nordhausen
Kontakt
Kerstin Faber, ehemalige IBA Projektleiterin
Projektträger:inner
Kooperationspartner:in
Förderung
Quartierskonzept / Architektur / Freiraum: ARGE Ossietzky-Hof (Hütten & Paläste, Berlin; ZRS Architekten, Berlin; Schönherr Landschaftsarchitekten, Berlin; eZeit Ingenieure, Berlin und ARCHITEKT MAURICE FIEDLER, Erfurt) mit plandrei Landschaftsarchitektur, Erfurt
Betreuung Realisierungswettbewerb: UmbauStadt, Weimar
Betreuung Realisierungswettbewerb: UmbauStadt, Weimar
- Gespräch mit Inge Klaan, IBA Magazin 2022
- IBA Logbuch, Stand 2019
- Interview IBA Magazin 2019
- Artikel Bauwelt 3.2019
- Wettbewerbsauslobung ›Multitalent gesucht‹ 2018
- Informationen Wettbewerb ›Multitalent gesucht‹ 2018
- Artikel IBA Magazin 2017
- Rahmenstudie von Teleinternetcafe mit HWK Landschaftsarchitektur, 2017
- Wettbewerbsdokumentation 1. Phase Zukunftsstadt
- Videobeiträge Bürgerwerkstätten
- Website Nordhausen: Analyse, Rahmenstudie, Realisierungswettbewerb
- Nordhäuser Zukunftszeitung