Gartenstadt mit System Erfurt
⸺ Bezahlbares Wohnen in Serie
›Bezahlbarer Wohnraum‹ ist eines der großen, intensiv diskutierten Themen von der kommunal- bis zur bundespolitischen Ebene. Von 400.000 Wohnungen, die jährlich geschaffen werden sollen, ist die Rede. Doch das Thema ist nicht allein mit Stückzahlen bilanzierbar. Eine ganzheitliche Betrachtung ist erforderlich, um die Abwägung zwischen Modernisierung, Umnutzung oder Neubau, um ökologische Aspekte, Wirtschaftlichkeit und Bezahlbarkeit, soziale Qualität und nicht zuletzt gute Gestaltung zu berücksichtigen. Dies alles ist zusätzlich von Standort zu Standort differenziert zu betrachten. Tatsache ist aber auch, dass durch die hochkomplexen Anforderungen der zeitliche und finanzielle Aufwand für Planungs- und Bauprozesse immer weiter steigt. Die Baukostenexplosion der vergangenen Jahre, insbesondere allein die Steigerung der Baunebenkosten mit einem Anteil von rund 30 Prozent, sind Ausdruck davon. Sind die bisherigen Instrumente und Prozesse des Wohnbausektors also angesichts der drängenden Aufgaben überhaupt noch geeignet? Was für Alternativen gibt es?
Nach einer jahrelangen Schrumpfung der Bevölkerungszahlen, verbunden mit entsprechenden Rückbaumaßnahmen insbesondere in den Großwohnsiedlungen, wächst Erfurt wieder. Mit einem Um- und Neubau der noch bestehenden Großwohnsiedlungen ergibt sich nun die Möglichkeit, den Bedarf an Wohnungen mit nachhaltiger Stadtentwicklung zu decken. Dies bildete den Ausgangspunkt für das IBA Projekt der KoWo — Kommunalen Wohnungsgesellschaft mbH Erfurt. Als größte Wohnungsanbieterin der Landeshauptstadt steht sie tagtäglich vor den genannten Herausforderungen und nahm bereits 2014 die IBA Thüringen zum Anlass, anhand eines umfangreichen Modellvorhabens die zeitgenössischen Potenziale des seriellen Bauens zu untersuchen. Motiviert von den positiven wie negativen Erfahrungen mit dem Typenwohnbau der DDR und heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung ging die KoWo das Vorhaben einer neuen Gartenstadt mit System an. Nach dem Vorbild anderer, hochdigitalisierter Branchen wie der Automobilindustrie sind Standards zu entwickeln, die Effizienz und Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitig flexibler Anpassung an spezifische lokale Anforderungen zulassen. Die KoWo setzte dazu auf ein interdisziplinäres Team aus Forschung und Industrie. Mit dem Forschungsprojekt ›Bauen mit Weitblick — Systembaukasten für den industrialisierten sozialen Wohnungsbau‹ unter der Leitung der Technischen Universität München und unterstützt vom Bundesprogramm Zukunft Bau wurden die Potenziale des heutigen seriellen Bauens untersucht und konkrete Handlungsanforderungen formuliert.
Ein wichtiges Ergebnis der Forschungsarbeit: Ein Großteil der Planungs- und Konstruktionsprozesse können bei seriellem Bauen von der Industrie abgedeckt werden. Die Entwicklung und Sicherung der spezifischen Projektqualitäten müssen dafür im Vorfeld stattfinden. Die Vorteile des industriellen und seriellen Bauens liegen aufgrund des hohen Vorfertigungsgrades also in der Einsparung von Kosten und Zeit. Der wesentliche Hebel ist dabei die Festlegung von Standards. Im Ergebnis des Forschungsprojekts entstand also ein umfassender Katalog für den industrialisierten seriellen Wohnungsbau, in dem evaluierte Standards abgebildet sind und einen Leitfaden für funktionale Ausschreibungen im seriellen Wohnungsbau bieten. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts dienten der KoWo auch als eine wichtige Grundlage im Rahmen ihrer Mitwirkung an der deutschlandweit ersten öffentlichen Ausschreibung einer Rahmenvereinbarung — Serielles und modulares Bauen durch den Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen 2018 (GdW e. V.).
Für das IBA Projekt ›Gartenstadt mit System‹ wurde ein im Zuge des Erfurter Stadtumbauprogramms der 2000er Jahre freigewordenes Grundstück innerhalb der Großwohnsiedlung ›Moskauer Platz‹ im Norden Erfurts gewählt. Der scheinbare Widerspruch zwischen dem Qualitätsanspruch einer ›Gartenstadt‹ und einer seriellen, also effizienten und wirtschaftlichen Umsetzung war bewusst als Leitbild der Projektentwicklung gewählt. Ein internationaler städtebaulicher und landschaftsplanerischer Wettbewerb mit Fokus auf Wohntypologie sollte die wesentlichen Qualitätsanforderungen des Projekts definieren und die bauleitplanerischen Grundlagen für die geplanten rund 100 Wohnungen schaffen. Im Ergebnis des Wettbewerbs wurde das Architekturbüro deckert mester architekten mit der weiteren Planung und Begleitung des Vorhabens beauftragt. Ihr Entwurf sieht eine Bebauung mit insgesamt zehn punktförmigen Gebäuden mit drei bis fünf Geschossen vor. Der Erdgeschossbereich wird durch großzügige autofreie Grünanlagen mit Wegen, Plätzen und Gärten sowie Gemeinschaftsfunktionen geprägt.
Parallel zum weiteren bauleitplanerischen Entwicklungs- und Genehmigungsprozess wurde die sogenannte ›funktionale Leistungs- oder Ergebnisbeschreibung‹ des Vorhabens formuliert. Das Ziel ist, damit einen Ausgleich zwischen dem Qualitätsanspruch und den Anforderungen an die Bauunternehmen zu bewirken, das heißt, die Aufgabe so konkret wie möglich und so offen wie nötig zu beschreiben.
Die Bauleitplanung ist inzwischen weit fortgeschritten und die Erstellung der Ausschreibungsunterlagen nahezu fertig, sodass in Kürze das finale Angebotsverfahren anfangen kann. Im Jahr 2024 sollen die Baumaßnahmen beginnen. Der Stadtteil Moskauer Platz erhält mit dem Projekt Gartenstadt mit System an der Tallinner Straße einen wichtigen Impuls für einen nachhaltigen landschaftsbezogenen Umbau, der die Interessen der Bewohner:innen in den Mittelpunkt stellt.
Ort
Gartenstadt mit System
Tallinner Straße
99091 Erfurt
Projektträger:inner
Kooperationspartner:in
Förderung
- Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Programm Zukunft Bau
- Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft
- Internationale Bauausstellung Thüringen GmbH
- Wissenschaftliche Voruntersuchungen: DGJ Architektur, Frankfurt am Main, Bauhaus-Universität Weimar, Professur für Betriebswirtschaftslehre im Bauwesen
- Forschungsprojekt ›Bauen mit Weitblick‹: Technische Universität München, Ingenieurfakultät Bau Geo Umwelt, Lehrstuhl für Holzbau und Baukonstruktion, Technische Universität München, Fakultät für Architektur, Lehrstuhl für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen, Professur für Entwerfen und Holzbau, Lehrstuhl für Industrial Design, Fraunhofer Institut für Bauphysik in Kooperation mit der Fraunhofer Allianz Bau, KoWo — Kommunale Wohnungsgesellschaft mbH, Erfurt, Max Bögl GmbH & Co. KG, Regnauer Fertigbau GmbH & Co. KG
- Soziologische Beratung: Dr. rer. pol., Dipl.-Ing. Architektur Joachim Brech
- Wettbewerbsbetreuung Städtebaulicher Wettbewerb: PAD, Weimar
- Planung: deckert mester architekten BDA, Berlin/Erfurt, club L94 Landschaftsarchitekten, Köln
- Bauleitplanung: Dr. Walther + Walther — Architekten und Stadtplaner, Erfurt
- Qualitätssicherung und gestalterische Beratung im Rahmen des städtebaulichen Wettbewerbs: Prof. Michael Mann
- Video IBA Salon Wohn-Bau-Kultur in Serie
30.09.2014
Nominierung zum IBA Kandidat
01.03.2016
Forschungsphase gefördert durch Bundesprogramm ›ZukunftBau‹ beginnt
27.03.2018
IBA Salon ›Wohn-Bau-Kultur in Serie‹ zum Forschungsprojekt
10.01.2018
EU-weiter Städtebaulicher Realisierungswettbewerb ›Gartenstadt mit System‹ startet
24.09.2018
Nominierung zum IBA Projekt
02.03.2023
Aufnahme in die IBA Abschlusspräsentation