Thüringen, 2.000 Kirchen
Sakrale Architekturen weitergedacht: Ideenaufruf für neue Nutzungen
»Kirchen prägen die Kulturlandschaft von Thüringen. Sie sind ein bedeutender Teil des kulturellen Erbes der Region. Ihre Neuprogrammierung mit dem Ziel der Förderung von sozialem Austausch in den einzelnen Gemeinden stärkt die Wahrnehmung von Thüringen sowohl von innen als auch von außen.«
Prof. Barbara Holzer, Fachbeirätin der IBA Thüringen
Sie sind identitätsstiftend und fast immer ortsbildprägend: 99 % der etwa 2000 evangelischen Kirchen in Thüringen stehen unter Denkmalschutz, sie sind ein bauhistorischer und kultureller Schatz. Doch die Pflege und Wahrung von Grundstücken, Pfarrhäusern und Kirchen wird angesichts des demografischen Wandels und abnehmender Kirchenmitglieder immer belastender. In Kooperation mit der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland (EKM) sucht die IBA Thüringen gemeinsam mit Partnern nach Strategien, leere, oder wenig genutzte Kirchen wieder mit Leben zu füllen.

2016 riefen die EKM und die IBA Thüringen auf, Ideen für zukunftsfähige Nutzungen von rund 2.000 Kirchen zu finden.

500 Ideen für 500 Kirchen in Thüringen kamen zusammen. Die Ergebnisse des offenen Ideenwettbewerbs ›StadtLand:Kirche‹ wurden in der Erfurter Kaufmannskirche ausgestellt.

Bei der Vernissage am 13. Mai 2017 konnten die Besucher selbst hunderte Ideen für den Umgang mit Kirchengebäuden lüften. Auf den Monitoren wurden die eingereichten Ideenvideos aus dem Aufruf abgespielt.
Sieben Modellprojekte sind aus dem Aufruf hervorgegangen: Die soziokulturelle Zentrumskirche in der Martinskirche Apolda wird gesellschaftlicher Treffpunkt, die Her(r)bergskirche St. Michaelis in Neustadt am Rennsteig wird über die Plattform Airbnb erfolgreich vermietet, die Gesundheitskirche St. Severi in Blankenhain vereint in sich die Ansätze ›Vivendium – Glauben und Heilen‹. Die St. Annen-Kapelle in Krobitz wurde mit einer gasbetriebenen Flammenorgel zur Kunstkapelle. Die Bienen-Garten-Kirche St. Peter und Paul in Roldisleben, ein meditativer Spielplatz in der Kirche St. Nicolai in Niedergebra und die Netzwerkkirche St. Johannis (digital und sozial) in Ellrich sind ebenfalls im Qualifizierungsprozess.

Die St. Annen-Kapelle in Krobitz ist das erste fertige Vorhaben aus dem offenen Ideenaufruf 2017. Der international renommierte Künstler Carsten Nicolai entwickelte die skulpturale Arbeit ›organ‹ für das IBA Projekt. Das Musikinstrument ist inspiriert von frühen Entwürfen sogenannter Flammenorgeln aus dem 18. Jahrhundert. Foto: Henry Sowinski

Die Her(R)bergskirche in Neustadt St. Michaelis am Rennsteig ist ein Modellprojekt für weitere mögliche Her(R)bergskirchen entlang des Rennsteigs im Thüringer Wald und seit März 2019 IBA Projekt.

Die Kirche St. Severi in Blankenhain soll eine Gesundheitskirche ›Vivendium‹ mit Tageslichtkirche werden. An der Planung beteiligt sind neben der Kirchengemeinde die Stadt Blankenhain, die Diakonie, die EKM, Investor Matthias Grafe, Jena Wohnen und die Helios Klinik.

Das Kirchenschiff der Martinskirche Apolda soll zu einem soziokulturellem Zentrum mit sozialem Treffpunkt umgebaut werden. Planungsbeteiligt sind die EKM, die Diakonie, die Stadt Apolda und die Kirchengemeinde.

Aus dem Roldislebener Gotteshaus soll eine Bienen-Garten-Kirche werden. Die Kirche St. Peter und Paul wird so zum Schutzraum für die Natur. 2019 erhielt das Vorhaben eine Finanzspritze vom Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft. 2019 entsteht auch ein Sinnesgarten mit biblischen Kräutern.

Die St. Johannis Kirche in Ellrich denkt bis 2030 und will digital und sozial vernetzen. In Workshops wurde der Kirchenraum schon häufig zum Treffpunkt. Beteiligte sind die Stadt Ellrich, die EKM, die Kirchengemeinde und das Architekturbüro ONOFF Berlin und der Künstler Jürg Montalta. Foto: Elke Bergt.

Die Kirche St. Nicolai in Niedergebra wurde mit Seilen und Stricken temporär zur Kletterkirche und zum Mitmachprojekt. Beteiligt sind die Kirchengemeinde, die Gemeinde Niedergebra und die EKM.
Landesbischof übernimmt Schirmherrschaft für Modellprojekte
Seit 2017 befinden sich in Thüringen sieben Kirchgemeinden auf dem Weg mit innovativen Nutzungsideen ihre Kirchgebäude mit neuem Leben zu füllen. Diese Modellprojekte sind hervorgegangen aus dem Ideenaufruf ›STADTLAND:Kirche. Querdenker für Thüringen 2017‹ und der Ausstellung ›500 Ideen, 500 Kirchen‹, einem Kooperationsprojekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) gemeinsam mit der IBA Thüringen.
In der vergangenen Woche hat Herr Landesbischof Kramer der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland nun entschieden, die Schirmherrschaft für diese sieben Modellprojekte zu übernehmen.
Mit viel Mut und Engagement haben die Akteure vor Ort angefangen ihr Gebäude zu öffnen, Netzwerke zu knüpfen und darüber zu diskutieren, was Kirche in Zukunft leisten kann. Alle Ideen verbinden traditionelle Gedanken zu Kirche mit Bedürfnissen unserer heutigen Zeit: eine Gesundheitskirche, eine Bienen-Garten-Kirche, ein Soziokulturelles Zentrum, eine Netzwerkkirche, eine meditative Spielkirche, eine Kunstkirche und eine Her(R)bergskirchenfamilie. Es wurde entworfen, verworfen, gearbeitet und gefeiert – ein bewegter Prozess, mit dem Ziel bis 2023 die verschiedenen Ideen zu realisieren.
Die Schirmherrschaft ist ein Zeichen der Wertschätzung für das Engagement der Menschen vor Ort, eine Ermutigung sich auf den Weg zu machen und eine Bestätigung für den Erhalt der Kirchengebäude durch lebendige Nutzung.
Förderung für Ausbau der Netzwerkkirche in Ellrich bewilligt
Am 3. November 2020 hat die Thüringer Staatskanzlei einen Förderbescheid über 1.3 Millionen Euro für den Ausbau der St. Johannis Kirche in Ellrich bewilligt.
Hervorgegangen aus dem Ideenaufruf von EKM und IBA Thüringen soll die St. Johannis Kirche in Ellrich zur Netzwerkkirche ausgebaut werden. Mit der Förderung sollen unter anderem der Wiederaufbau der Empore im Innenraum gesichert und die Raumakustik verbessert werden, um in Zukunft die Verständlichkeit und das Hörerlebnis in der gesamten Kirche gewährleisten zu können. Außerdem sollen eine neue Bestuhlung und mobile Trennwände die flexible Möblierungen für unterschiedliche Anforderungen sicherstellen und Funktionsräume wie Toiletten, Garderobe und Teeküche installiert werden.
Die Grundfunktion der Kirche als Evangelisches Gotteshaus bleibt erhalten, jedoch soll die Johanniskirche durch die behutsamen Interventionen in Zukunft auch als vielseitiges Veranstaltungszentrum genutzt werden. Damit erhält Ellrich einen Veranstaltungsort, mit dem sich die Stadt zu einem zentralen kulturellen Anlaufpunkt im Südharz entwickeln wird.
904.800 Euro der Förderungsbewilligung stammen aus Mitteln des EFRE-Fonds der Europäischen Union, die Evangelische Kirche stellt 226.200 Euro zur Verfügung. Am 9. Dezember ist die feierliche Übergabe des Bewilligungsschreibens durch Ministerpräsident Bodo Ramelow vorgesehen.
Favorisierter Entwurf für Umbau und Sanierung der Martinskirche Apolda
Das Leipziger Architekturbüro Atelier ST des Architektenduos Silvia Schellenberg–Thaut und Sebastian Thaut ist Favorit bei der Mehrfachbeauftragung für die Martinskirche in Apolda.
Der 1119 erstmals erwähnte Kirchenbau im Herzen Apoldas zählt zu den ältesten Gebäuden der Stadt. Aufgrund der aktuell geringen Anzahl an Gemeindemitgliedern und einem generellen Rückgang von Kirchgängern wird derzeit jedoch nur die kleine Kapelle als Ort sakraler Nutzung herangezogen. Der imposante Raum des Langschiffs der Martinskirche steht leer. Er fungiert momentan als Lager und Archiv.
Im Rahmen des offenen Querdenker-Aufrufs 2017 der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der IBA Thüringen wurden über 500 Ideen zur Belebung von wenig bis gar nicht genutzten Kirchengebäuden gesammelt. Zu den ausgewählten Modellprojekten gehört auch die Kirche St. Martin in Apolda.
Aufgabe der Mehrfachbeauftragung war es, den Ort und das Bauwerk mit neuem Leben zu füllen. Dafür sollten die Leerräume der Kirche und ihre Freianlagen in ein soziokulturelles Zentrum umgewandelt werden. Konkret waren Probe- und Übungsräume, Sitzungssäle, Büros, Räume für Jugend- und Kinderarbeit, Toiletten usw. in die Substanz bzw. als Ergänzung an diese unterzubringen.
Das favorisierte Konzept des Ateliers ST sieht vor, ohne Eingriffe in die tragende Bausubstanz ein Haus im Haus zu errichten. Der Grundgedanke des Entwurfs ist, den Raum der Kirche von den heute nicht mehr sinnvoll nutzbaren Emporen zu befreien und in diesen Raum ein quasi schwebendes Objekt zu implantieren. Der karge Raum der Kirche bleibt vollkommen erlebbar, gewinnt aber durch das eingesetzte Volumen eine einzigartige und dramatische Qualität, die durch die Führung des Lichts noch einmal unterstrichen wird.

Der favorisierte Entwurf des Ateliers ST für die Martinskirche Apolda. Visualisierung: Atelier ST
Im Erdgeschoss ensteht ein offener, für zahlreiche Aktivitäten, Inszenierungen, Ausstellungen frei verfügbarer Raum, der wie eine innenräumliche Piazza funktioniert, der offen ist zum Garten, aber prinzipiell auch offen sein kann zum sonstigen umliegenden Stadtraum, von dem her Aktivitäten aufgenommen, ja in der Kirche konzentriert werden können. Diese Multivalenz und Offenheit ist einem soziokulturellen Zentrum sehr gemäß. Der Raum kann temperiert werden, je nach den Erfordernissen des jeweiligen Gebrauchs.
Der in und über diesem Raum „schwebende“ Körper wiederum nimmt eine Reihe von Funktionen der Gemeinde auf, ist kompakt, ganzjährig und permanent nutzbar, weil vollständig beheizbar. Die gewählte Figur des Implantats folgt streng, ja minimalistisch, den funktionalen und statischen Erfordernissen und bezieht auch daraus eine unikale und zeichenhafte Qualität. Der Körper stützt sich einerseits ab auf die Erschließungselemente der Treppe und des Aufzugs, wodurch die Gemeinderäume barrierefrei erreichbar sind. Er stützt sich andererseits ab auf eine massive, asymmetrisch im Raum stehende Stütze wie ein „Fuß“, die den Boden aber nur minimal berührt, und einen „Arm“ als Erschließungs- und Fluchtweg von und zu der außen liegenden Treppe der Kirche. Der freischwebende Betonkörper gerät derart in eine nahezu archaisch schöne Wechselbeziehung zum umgebenden alten Mauerwerk der Kirche.
Die Jury ist nach intensiver Diskussion zu der einstimmig getroffenen Entscheidung gelangt, dem Bauherrn die Arbeit des Atelier ST Leipzig zur Realisierung zu empfehlen und das Architekturbüro mit der Planung zu beauftragen.
Insgesamt würdigt das Berater- und Sachverständigengremium die herausragende räumliche, atmosphärische und symbolische Qualität des Entwurfs. Die Belange des soziokulturellen Zentrums seien in diesem Projekt ebenso abgebildet, wie die Erfordernisse der Kirchgemeinde. Zudem schaffe die Figur der Lösung ein nahezu einzigartiges Bild, das verspricht, die Martinskirche weithin zu einer Ikone der modernen Kirchenumnutzung werden zu lassen.
Die Fertigstellung des Vorhabens ist für 2023 geplant.
Rückblick auf den 29. Evangelischen Kirchbautag 2019
›Kirche als öffentlicher Raum‹ so lautete das Motto des 29. Evangelischen Kirchbautags, der vom 19. bis zum 22. September 2019 in Erfurt stattfand. Gastgeber in diesem Jahr war die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM), die aufgrund ihres Querdenkerprojekts, das in Kooperation mit der IBA Thüringen durchgeführt wird, ausgewählt wurde. Etwa 370 Gäste aus ganz Deutschland, aber auch aus den Partnerkirchen in Wochester und Lund, aus Dänemark, England und sogar aus Island waren angereist, um sich dem Thema der Kirchengebäude und ihrer Zukunft zu widmen.
Das Programm des Kirchbautages begann mit einem eindrucksvollen Eröffnungsgottesdienst mit dem neuen Landesbischof Friedrich Kramer in der Predigerkirche und einem Gemeinschaftsabend mit mitgebrachten Spezialitäten aus allen Regionen Deutschlands. In den folgenden Tagen konnten sich die Teilnehmer bei Vorträgen, Exkursionen und in Workshops darüber austauschen und informieren, was in der EKM und darüber hinaus zum Thema Kirchenbau diskutiert und realisiert wird und welche Chancen sich aus der Zusammenarbeit mit einer IBA ergeben.

In der Lutherkirche in Erfurt wurden zum Auftakt des 29. Kirchbautags verschiedene Projekte zum Thema ›Kirche als öffentlicher Raum in bewegten Zeiten‹ vorgestellt.
Anders als in den letzten Jahren wurde der diesjährigen Tagung ein deutlich verstärkter internationaler Aspekt verliehen. So wurden unter anderem die verschiedenen Projekte der EKM-Gemeinden jeweils mit einem internationalen Beispiel gespiegelt, vorgestellt und anschließend diskutiert. Mit dem Abschlussgottesdienst am Sonntag in der Augustinerkirche ging eine erfolgreiche Tagung zu Ende, bei der neue Impulse für den Umgang mit Kirchen gegeben wurden, die für die kommenden Jahre richtungsweisend sein können.
Musikalische Intervention in Krobitz
Die fast 1.000 Jahre alte St. Annen-Kapelle in Krobitz bei Weira, die 2017 mit dem Kunstprojekt ›organ‹ von dem international bekannten Künstler Carsten Nicolai nach fast 60 Jahren wieder geöffnet wurde, öffnete auch 2018 von April bis September an jedem ersten Sonntag im Monat ihre Türen.
Höhepunkt der zweiten Saison war eine zeitgenössische musikalische Intervention der Leipziger Künstlerin Pina Rücker am 8. September 2018.

Sie reagierte mit Quarz-Glas-Schalen und der Dresdner Künstler Jan Heinke mit einem Stahlcello, Oberton-Gesang und verschiedenen Blashörnern auf die 12-minütige Komposition von Carsten Nicolai, die auf der gasbetriebenen Orgel mit 25 Glaspfeifen zu hören ist. Es entwickelte sich eine faszinierende Klang – und Raumkomposition in der alten romanischen Kapelle. Foto: Henry Sowinski

Insgesamt besuchten 2018 700 Gäste die St. Annen-Kapelle in Krobitz. Viele kamen aus den umliegenden Dörfern sowie aus den angrenzenden Städten wie Saalfeld und Jena. Aber auch aus Leipzig und Berlin und sogar aus Norwegen und Mexiko kamen Interessierte. Die Tore der St. Annen-Kapelle geöffnet, die gasbetriebene Orgel gewartet und über das IBA Projekt informiert haben die Mitglieder des Freundeskreises der kleinen Kirche, der sich 2017 gebildet hat. Foto: Henry Sowinski
Pavillon für Bienen- und Gartenkirche Roldisleben
Das Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) der Universität Stuttgart stellt der Bienen- und Gartenkirche Roldisleben einen Pavillon zum Selbstkostenpreis zur Verfügung.
Grundriss Pavillon_Landschaftsarchitekten Backhaus und Barnett.png
Im Juli 2018 würdigte das Thüringer Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft das innovative und integrierte Konzept des IBA Kandidaten, das von zahlreichen Bürgern mitgetragen wird, mit 20.000 Euro.
Die erste Ausstellung wird im April 2019 von Künstlerin Jeanette Zippel präsentiert - ›Kunst mit und über Bienen‹. 2019 wird außerdem ein Sinnesgarten mit biblischen Kräutern im Kirchgarten angelegt.
500 Kirchen 500 Ideen. Neue Perspektiven für Kirchen
Markant und selbstbewusst stehen sie da, prägen Stadtsilhouetten, bedeutende Plätze und bilden weithin sichtbare Orientierungspunkte. Wohl niemand möchte sich unsere Städte und Landschaften ohne Kirchen und deren Türme vorstellen. Für viele Menschen sind sie nicht nur wichtige Landmarken, sondern haben auch enormen Symbolwert. Sie sind Kulturorte und touristische Anziehungspunkte. Aber oft sind sie verschlossen und menschenleer.
Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) verfügt mit rund 2.000 Kirchen in Thüringen über einen enorm großen und wertvollen Gebäudebestand, 99 Prozent davon stehen unter Denkmalschutz. Man kann die EKM als 'steinreich' bezeichnen, aber mit ihren aktuell rund 735.000 Mitgliedern ist sie vergleichsweise klein.
Offener Ideenaufruf
Wie geht man mit diesem Erbe um? Welche Bedeutung haben die altehrwürdigen Bauten im Alltag? Sind die Kirchen nun übrig oder überflüssig? Genau hier setzt das Vorhaben der EKM ›Perspektiven für kirchliche Gebäude in Thüringen – Aufgabe, Abgabe, Wandel?‹ an, das seit 2014 IBA Kandidat ist. Gebraucht wird ein Perspektivwechsel. Es muss in Zukunft in den einzelnen Regionen deutlich mehr um gemeinsame Konzepte von lokalen Akteuren gehen. Diese Konzepte müssen ortsspezifisch sein und von Menschen vor Ort getragen und gelebt werden. Um innovative Lösungsansätze zu finden, entstand das Vorhaben ›STADTLAND:Kirche 2017‹. Mit finanzieller Unterstützung durch die Kulturstiftung des Bundes und unter Mitwirkung der kuratorischen Projektleitung chezweitz startete dieser Ideenaufruf im März 2016. Kirchengemeinden, Kommunen, Architekten, Künstler, Schüler, Studierende und sonstige Interessierte waren aufgerufen, neue, innovative, provokante, quer gedachte Ideen für Thüringer Kirchen zu formulieren.
Ausstellung
Die Ideen sollten in einer zentralen Ausstellung möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden. Der historische Kirchenraum der Erfurter Kaufmannskirche wurde mit gelben Kirchenbänken als 'Raum in Raum'-Situation gestaltet, in der die Ideenvideos auf Monitoren liefen. Drei Querdenker-Salons begleiteten die Ausstellung. Dabei diskutierten Vertreter von Kirche, IBA Thüringen und Denkmalpflege über einen zukunftsfähigen Umgang mit den Kirchen.
Die Resonanz war überwältigend: über 20.000 Gäste besuchten die Ausstellung ›500 Kirchen 500 Ideen‹ in der Erfurter Kaufmannskirche zwischen Mai und November 2017. Für die enge Vernetzung zum Reformationsjahr sorgte ein Ausstellungssatellit, der unter anderem zum Kirchentag nach Lutherstadt Wittenberg und ins Kloster Volkenroda tourte. Die Schnittstelle in den öffentlichen Raum bildete ein ›Ideengenerator‹, der vor der Kaufmannskirche auf die Ausstellung aufmerksam machte.
Katalog
Zu dem Gesamtvorhaben ist eine Publikation erschienen. Unter dem Titel ›500 Kirchen, 500 Ideen. Neue Nutzung für sakrale Räume‹ fasst sie alle Ideen der Ausstellung, die Situation der Kirchengebäude in Thüringen, ihre Bedeutung und Nutzung zusammen.

Die Publikation ›500 Kirchen, 500 Ideen. Neue Nutzung für sakrale Räume‹ zum Projekt. Foto: chezweitz
Modellprojekte
Einige konkrete Vorhaben präsentierte die Erfurter Ausstellung bereits als künftige Modellprojekte, so zum Beispiel das Sozialkaufhaus in der Martinskirche Apolda oder die Her(R)bergskirche in St. Michaelis in Neustadt am Rennsteig. Eine Werkstattwoche mit wenigen baulichen Interventionen – fünf Kirchenbänke wurden abgeschraubt und zwei Schlafebenen, die sich in die gut in den Kirchenraum integrieren, eingebaut – schuf die Voraussetzungen dafür, die Michaeliskirche von August bis Oktober 2017 in einem Probelauf über Airbnb erfolgreich zu vermieten. Ein nächster Schritt ist eine Studie, um die Potenziale dieses Konzeptes und mögliche weitere Standorte aufzuzeigen. Andere Projekte wie u.a. die Gesundheitskirche in der Kirche St. Severi in Blankenhein, die Bienenkirche in St. Peter und Paul in Roldisleben, ein meditativer Spielplatz in der Neuen Donndorfer Kirche oder die Netzwerkkirche in St. Johannis in Ellrich sind noch in der Entwicklung.
IBA Projekt: Die Kunstkapelle St. Anna in Krobitz
In der St. Annen-Kapelle in Krobitz bei Weira entwickelte der international renommierten Künstler Carsten Nicolai das Kunstprojekt ›organ‹. Die Kapelle wurde damit wieder geöffnet und zum ersten fertiggestellten IBA Projekt überhaupt. Etwa 1.500 Gäste besuchten die kleine Kapelle romanischen Ursprungs, die fast 100 Jahre verschlossen war, an den Wochenenden im kurzen Zeitraum von Juni bis September 2017. Ein besonderer Umstand war, dass sich die Vertreter aus dem Ort und der Region rege am Prozess beteiligt haben und Woche für Woche die zahlreichen Besucher empfingen. Im Sommer 2018 geht das Kunstprojekt in seine nächste Saison – vor allem Dank dem Zusammenwirken vom Bürgermeister, von Kirchgemeinde und engagierten Krobitzer Familien. Als Freundeskreis sorgen sie künftig gemeinsam dafür, dass die Kapelle erhalten und genutzt werden kann.
Ausblick
Auch an anderen Orten in Thüringen entstehen weitere Projekte. Welche drei bis fünf Vorhaben bis zum Finaljahr der IBA Thüringen 2023 in Gänze realisiert werden können, soll 2018 feststehen. Diese sollen dann in das gesamte Thüringer Land sowie über dessen Grenzen hinaus und in die Evangelische Kirche Strahlkraft entwickeln. Und sie sollen Mut machen, Veränderungen auch in der eigenen Kirche anzugehen.
Workshop zur Umnutzung von Kirchengebäuden bei der IBA Parkstad
Im Rahmen des Vorhabens ›STADTLAND:Kirche 2017‹ fand vom 15. bis 16. November 2017 ein Workshop bei der IBA Parkstadt in Heerlen in den Niederlanden statt. Die IBA Parkstad war neben der IBA Basel und IBA Heidelberg Kooperationspartner bei diesem Vorhaben. Vertreter von Kirchenprojekten der IBA Parkstad und Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der IBA Thüringen sowie der kuratorischen Projektleitung chezweitz diskutierten über innovative Modellprojekte. Dabei ging es um nicht mehr ausreichend genutzte Kirchen in beiden Ländern, als auch um bürgerschaftliches Engagement. Die Beteiligten waren sich einig, dass Nutzungen aus den Bereichen Kunst/Kultur, Fürsorge und Betreuung (Gesundheit) gut verträgliche Nutzungen für diese besonderen Gebäude sind.
Im Rahmen des Workshops besuchten die Teilnehmer das Elisabeth Stift in der Nähe von Heerlen. Diese Stift einschließlich der vorhandenen Kapelle wird derzeit mit Unterstützung der IBA Parkstad unter energetischen Gesichtspunkten umgebaut. Hier entstehen Wohneinheiten mit Betreuung rund um die Uhr.
Der Ausstellungssatellit ›STADTLAND:Kirche 2017‹ war vom 25. Oktober bis 16. November 2017 bei der IBA Parkstad im Glaspalais ›Schunk‹ in Heerlen in zu sehen.
Erste Ideenwerkstatt in der Michaeliskirche
In den zukünftigen Her(R)bergskirchen des Thüringer Waldes können Radfahrer und Wanderer entlang des Rennsteigs nicht nur mit traumhaftem Blick in den Kirchenhimmel übernachten, sondern beispielsweise auch in der neu eingerichteten Dorfbibliothek stöbern, gemeinsam mit lokalen Bewohnern einen spannenden Filmabend, ein ausgiebiges Abendessen, oder den wöchentlichen Yogakurs genießen.
Um dies mit allen Interessierten aus Neustadt und der Region zu diskutieren und aktiv zu erproben, wurde die Michaeliskirche vom 30. Juli bis zum 6. August 2017 im Rahmen einer einwöchigen Ideenwerkstatt in eine temporäre Her(R)bergskirche verwandelt. In dieser wurde gemeinsam gewohnt, diskutiert, gekocht, gegessen und übernachtet.
Durch dieses Experiment auf Zeit eröffnete sich für die Neustädter Kirchengemeinde ein neuer Denk- und Handlungsraum, in dem vielfältige Nutzungsmöglichkeiten für die Michaeliskirche entwickelt und erprobt wurden. Ob Sushi-Abend am Altar, der Zumba-Fitness-Kurs, das gemeinsame Chorsingen mit dem Rennsteigchor, die Märchenstunde für Klein und Groß, ein beeindruckender Kinoabend, oder das große französische Essen: gemeinsam wurde die Michaeliskirche aus ganz neuen Perspektiven erlebt.
Im Rahmen der Ideenwerkstatt entstand eine erste räumliche Installation, welche die Idee der Her(R)bergskirche konkret vorstellbar macht. Sie bietet nicht nur eine Übernachtungsmöglichkeit für bis zu drei Personen, sondern stellt darüber hinaus auch lokale Besonderheiten im ›Regionalen Schaufenster‹ aus, sammelt und präsentiert Ideen für das neue (Er)leben von Kirchen im Thüringer Wald und beinhaltet neues Mobiliar für vielfältige Nutzungen im Kirchenraum.
Die Initiative zur Entwicklung gemeinnütziger Her(R)bergskirchen im Thüringer Wald ging aus dem Ideenwettbewerb ›STADTLAND:Kirche 2017‹ hervor. Initiiert wurde sie von einem Team bestehend aus jungen Architekten aus Berlin und Leipzig im engen Zusammenspiel mit der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM), dem Evangelischen Kirchenkreis Arnstadt-Ilmenau, der Gemeinde Neustadt am Rennsteig, der Internationalen Bauausstellung IBA Thüringen und der Technischen Universität Berlin.
›STADTLAND:Kirche 2017‹ ist ein Kooperationsprojekt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) mit der IBA Thüringen, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Die kuratorische Projektleitung des Aufrufs sowie die Gestaltung der Ausstellung erfolgt durch das Büro für Szenografie chezweitz. Weitere Förderer sind die Staatskanzlei des Freistaats Thüringen sowie die IBA Parkstad, IBA Heidelberg und IBA Basel.
Weitere Informationen: www.herrbergskirchen.org
Kontroverse Debatte um die Nutzung von Kirchengebäuden
1. Querdenker-Salon in Erfurt
Im Rahmen des Ideenaufrufs ›STADTLAND:Kirche 2017‹ und der Ausstellung ›500 Kirchen 500 Ideen‹ fand am 13. Juni 2017 der 1. Salon zum Thema ›Orte schaffen. Soziale und kulturelle Öffnung von Kirchen‹ in der Kaufmannskirche am Anger in Erfurt statt.
Nach einer musikalischen Einstimmung von Schülern der Musikschule der Stadt Erfurt und zwei Beispielfilmen hielt der Architekturjournalist Dr. Dankward Guratzsch einen Inputvortrag und fragte, ob Kirchen überhaupt Um- bzw. Mehrfachnutzung erfahren sollten oder ob sie nicht viel mehr einfach Orte der Besinnung und Andacht für den heute oft im ›Funktionsmodus‹ lebenden Menschen sein sollten. Er lehnte ab, die Nutzungsfrage für Kirchen zu stellen und stellte damit viele im Projekt gesammelte Ideen in Frage. Oliver Weilandt vom Internationaler Audiodienst moderierte die anschließende kontroverse Diskussion. Im Podium saßen der Senior des Kirchenkreises Erfurt Dr. Matthias Rein, der Landeskonservator vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Holger Reinhardt, vom Berliner Büro für Szenografie chezweitz Dr. Sonja Beeck, die Leiterein des Baurefertas der EKM, Elke Bergt, und die Projektleiterin der IBA Thüringen, Ulrike Rothe. Die spannende Diskussion öffnete sich auch ins Publikum und zahlreiche Pfarrer und Gemeindevertreter äußerten sich zur Debatte. Im Brennpunkt stand die Frage, was Kirche als Ort heute sein kann und darf, aber auch, wie man die Pflege und den Erhalt dieser Gebäude – oft eine bedrückende Frage für Kirchengemeinden - sicherstellen kann. Der Salonabend in der Kaufmannskirche klang anschließend bei gutem Wein und Musik aus.

Inputvortrag des Journalisten und Architekturkritikers Dr. Dankwart Guratzsch. Foto: Thomas Müller

Rund 50 Interessierte kamen zum ersten Salon in die Erfurter Kaufmannskirche. Foto: Thomas Müller
Gelungene Eröffnung der Ausstellung ›500 Kirchen 500 Ideen‹
Rund 200 Querdenker haben am 13. Mai 2017 die Vernissage zur Ausstellung ›500 Kirchen 500 Ideen 2017‹ gefeiert. Die Ausstellung vereinigt hunderte Ideen zur künftigen Nutzung von Kirchengebäuden, die 2016 bei einem Ideenaufruf gesammelt wurden.
Zur Vernissage begrüßte Pfarrer Dr. Tilman Cremer die Teilnehmenden in der Erfurter Kaufmannskirche. Elke Bergt, Leiterin des Baureferats der EKM, beschrieb die Ausgangssituation, mit der die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland auf die Suche nach Nutzungsideen für ihre Kirchengebäude ging. IBA Geschäftsführerin Dr. Marta Doehler-Behzadi betonte den notwendigen innovativen Umgang mit dem Leerstand in Thüringen. In ihren Beiträgen verwiesen Dr. Kirsten Haß von der Kulturstiftung des Bundes, Diethard Kamm, stellvertretender Landesbischof, und Elke Harjes-Ecker von der Thüringer Staatskanzlei auf die Notwendigkeit und Stärke von Beteiligungsprozessen, die das Projekt mit der Ideensuche kennzeichnen. Die Augustinerkantorei unter Leitung von Dietrich Ehrenwert sorgte für die musikalische Umrahmung und lud die Besucher zum Mitsingen ein. Dr. Sonja Beeck vom Büro für Szenografie chezweitz, das den Aufruf kuratiert und die Ausstellung gestaltet hatte, eröffnete mit einem Countdown die Präsentation. An 25 Monitoren konnten die Besucher nun die Videos der eingesandten Ideen ansehen.
Weitere neue Ideen wurden vor der Kirche von den Besuchern an einem gelben Häuschen produziert: Der ›Ideengenerator‹ des Künstlerkollektivs ›Die philosophischen Bauern‹ bot eine spielerische Möglichkeit, Lösungen für den Leerstand von Kirchen zu entwickeln.

Hunderte Ideen wurden 2016 zum Ideenaufruf eingereicht, viele davon als Video. Foto: Thomas Müller

Vor der Kirche steht ein gelbes Haus, an dem die Besucher kreativ werden und neue Nutzungsvorschläge für Kirchengebäude entwickeln können: Der Ideengenerator. Foto: Thomas Müller
Mehr Bilder auf querdenker2017.de.
Ideen für Thüringer Kirchen
Elke Bergt über das Projekt ›STADTLAND:Kirche 2017‹
2017 wird an 500 Jahre Reformation erinnert. Ein Anlass zum Feiern, aber auch zum Neu- und Umdenken. Auch und gerade was die Nutzung vieler Kirchen in Thüringen angeht. Vor allem wegen des demographischen Wandels gehen die Zahlen der Kirchenmitglieder zurück. Die Kirchengebäude und Pfarrhäuser aber bleiben – manch eines steht leer, ist ungenutzt oder wird nur selten mit Leben gefüllt. Vor einem Jahr startete das Projekt ›STADTLAND:Kirche 2017‹ von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) in Kooperation mit der IBA Thüringen. Ziel war es, vor dem Hintergrund des Reformationsjubiläums 500 Ideen für die Zukunft Thüringer Kirchen zu sammeln. Angesprochen waren vor allem Kirchengemeinden, Planer und Hochschulen.
Das folgende Interview mit Elke Bergt, Leiterin des Baureferats der EKM, erschien zuerst in der April-Ausgabe von EKM Intern, dem Magazin für Haupt- und Ehrenamtliche der EKM, und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Rund 400 Ideen sind seit dem Aufruf im vergangenen Jahr eingegangen. Nicht ganz 500, wie erhofft. Waren Sie dennoch überrascht über diese rege Beteiligung?
Nein. Überrascht bin ich nicht, aber sehr erfreut, dass sich doch so viele Ideengeber gemeldet haben. Wir haben zu Beginn des Aufrufs doch eine Menge unternehmen müssen; vor allem, um die Kirchengemeinden zum Nachdenken anzuregen. So waren wir mit Workshops unterwegs, um Gemeinden zu ermutigen. Unsere aktivsten Partner waren häufig die Kirchbauvereine. Ich bin froh, dass es da so viel Engagement gibt.
Welche Vorschläge haben Sie besonders berührt?
Vor allem die Vielfalt der Ideen hat mich beeindruckt. So gab es ganz konkrete Vorschläge, wie man z.B. Kirchen mit als Beherbergungsorte nutzen kann. Aber es gab auch Einreichungen, die ganz grundsätzliche Fragen gestellt haben: Wie gehen wir mit Veränderung um? Wirklich berührt hat mich, dass bei fast allen Ideen die Nutzung als Gebetsort, Ruheort oder eben einfach als Ort außerhalb des Alltäglichen erhalten bleiben soll. Wir hatten das nicht eingefordert, sondern die Idee zur Nutzung völlig frei gelassen. Toll finde ich auch, dass nicht nur Menschen, die der Kirche nahestehen, ihre Ideen eingereicht haben, sondern auch Leute, die Lust haben, sich mit dem Thema Kirche zu beschäftigen oder denen diese Orte sehr am Herzen liegen.
Gab es auch Vorschläge, die zu ambitioniert oder realitätsfern waren?
Bei einigen Studentenarbeiten gingen die Ideen schon sehr weit. Eine Sauna- und Wellnesslandschaft in einer Kirche – da fällt mir die Vorstellung schon etwas schwer. Wenn die Kirche allerdings wirklich leer steht und diese Nutzung helfen würde, das Bauwerk für einige weitere Jahrzehnte zu erhalten, dann sollte man darüber nachdenken.
Warum braucht es überhaupt ein solches Projekt? Damit die Kirche im Dorf bleibt? Nur eben anders?
Oberflächlich betrachtet haben wir gar kein Problem mit den Kirchengebäuden. In den Jahren nach der Wende wurde unheimlich viel gesichert, saniert und restauriert. Es gibt nur noch ganz wenige Kirchen, die baulich stark gefährdet sind. Wenn man aber genauer hinschaut, dann sieht man, dass die Menschen, die sich kümmern, in der Regel immer älter und weniger werden und bei allem Engagement schnell an die Grenzen der Belastbarkeit kommen. Wir haben es hier mit Ehrenamt zu tun. Auch die hauptamtlichen Mitarbeiter sind stark belastet. An vielen Stellen wird deutlich, dass die kirchliche Arbeit und die Erhaltung der Gebäude überdacht und anders organisiert werden müssen.
Ab dem 13. Mai werden alle eingegangenen Vorschläge in der Erfurter Kaufmannskirche ausgestellt. Wie kann man sich diese Ausstellung vorstellen?
Wir haben die Ideen in Form von Kurzvideos eingesammelt. In der Kaufmannskirche wird man in Kirchenbänken sitzen, die mit Bildschirmen ausgestattet sind. Dort kann man sich eine bestimmte Anzahl an Ideen anschauen und per Kopfhörer anhören. Für die nächsten Ideen muss man weiterrücken. Die Bänke werden übrigens knallgelb sein. Einige besondere Ideen werden gesondert präsentiert. Dieses sind die modellhaften Ideen, aus denen einige zur Realisierung ausgesucht werden. Ziel ist, verwirklichte Ideen 2023 zum Repräsentationsjahr der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen zu zeigen.
Draußen vor der Kirche wird es einen sogenannten ›Ideengenerator‹ geben. Was genau steckt hinter dieser Idee?
Ganz einfach: Anregungen und Fragen hinein und die Idee kommt heraus. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Hinter dem Ideengenerator steckt ein Künstlerprojekt. Man darf gespannt sein.
Neben der Ausstellung wird es in diesem Jahr auch noch viele andere Aktivitäten geben, die die Ideen für Thüringer Kirchen bekannt machen wollen. Zum Beispiel sind sogenannte Entdeckertouren geplant?
Es ist uns wichtig, Interessierten auch die Orte zeigen, um die es uns geht, und zwar in einer großen Breite. Die fünf Entdeckertouren führen insgesamt in zehn Kirchen. Dort treffen wir Ideengeber und Gemeinden, die etwas bewegen wollen. Es werden jeweils kleinere Interventionen zu sehen oder zu erleben sein, die die Idee verdeutlichen. Im Übrigen ist das auch eine gute Möglichkeit für Kirchengemeinden, sich Anregungen für eigene Projektideen zu holen. Warum also nicht einmal ein Gemeindeausflug als Entdecker?
Zum Projekt gehört auch die künstlerische Gestaltung einer bislang wenig beachteten Kirche. Die Wahl ist auf die Kirche in Krobitz (Kirchenkreis Schleiz) gefallen. Der Berliner Künstler Carsten Nicolai wird sie bis Mai 2017 gestalten. Was erhoffen Sie sich von diesem Kunstprojekt?
Carsten Nicolai ist ein international bekannter Künstler, der weltweit arbeitet. Wenn eine solche Prominenz in einem kleinen Ort wie Krobitz – der Ort besteht aus wenigen Gehöften – ein Kunstwerk schafft, was macht das mit dem Ort und den Menschen dort? Ist es möglich, eine kleine ungenutzte Kapelle damit wieder zum Leben zu erwecken? Wie bringt man den (zugegebenermaßen etwas angestaubten) Charme mit moderner Kunst zusammen, ohne den Charakter des Raumes zu zerstören? Das sind die Fragen, die wir uns bei diesem Projekt stellen.
Wie ist Ihre Prognose? Wird das Projekt wirklich zu einem Umdenken führen, was die Nutzung der Thüringer Kirchen angeht?
Ich denke, dass wir mit diesem Projekt viele Gemeinden dazu angeregt haben, sich auf den Weg zu machen. Natürlich geht es nicht nur um die Gebäude, sondern immer auch um das Leben darin. Andere Initiativen der EKM sehe ich in ganz engem Zusammenhang: Offene Kirchen, Erprobungsräume, Gebäudekonzeptionen – das zeigt an, dass wir auf dem Weg sind, zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln. Veränderung kann aber nur gelingen, wenn die Menschen, die es betrifft, das auch wollen. Uns sehe ich als Anreger und Unterstützer. Aufgrund der positiven Erfahrungen innerhalb des Projekts bin ich frohen Mutes, dass das gelingt.
Neue Ideen: Marta Doehler-Behzadi über die Verweltlichung der Kirche
Um Kirchen in Zeiten schwindender Mitgliederzahlen wieder mit Leben zu füllen, suchen die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland und die IBA Thüringen gemeinsam nach innovativen Ideen. Dazu starteten sie im Februar den Ideenaufruf ›Stadtland:Kirche - Querdenker für Türingen 2017‹. Die Ostthüringer Zeitung (OTZ) hat das Projekt über mehrere Wochen begleitet und vier Ostthüringer Kirchen vorgestellt. Zum Abschluss der Serie ›OTZ - Wir lassen die Kirche im Dorf‹ befragte sie Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA Thüringen, zum Stand des Projekts:
Frau Doehler-Behzadi, wie steht es derzeit um den Querdenker-Ideenaufruf?
Momentan sind wir auf Strategiesuche.
Das müssen Sie uns genauer erklären. Der Wettbewerb läuft ja bereits eine Weile.
Das stimmt. Und seit Beginn sind etwa 105 Videos und 187 sonstige Ideen bei der EKM eingegangen. Von Hochschulen erwarten wir noch etwa 100 weitere. Wir freuen uns über diese Fülle. Gleichzeitig aber ist die Vielzahl eine Herausforderung, mit der es nun umzugehen gilt. In den letzten Monaten sind wir viel gereist. Und es ist schon etwas anderes, diese fast 2000 Kirchen selbst zu sehen und die kleinteilige Struktur zu erleben, als sie nur vom Plan zu lesen. Das ist ein großer Reichtum.
Der aber nicht mehr bezahlt werden kann, weil es an Mitgliedern fehlt...
Richtig. Kleinste Dörfer mit zwei Kirchen und nur 60 Einwohnern, von denen vielleicht noch sechs in die Kirche gehen. Was machen wir damit? Glücklicherweise gibt es da auch die vielen engagierten Leute. Deren Ideen müssen nun gesichtet werden, welche zu verfolgen sind.
Gibt es bei den Ideen bereits erkennbare Tendenzen?
Gute Frage. Ich glaube nicht, dass es die eine Antwort auf die Frage gibt, die der Querdenker-Aufruf stellt. Aber das hat sicher auch niemand erwartet. Die Vielschichtigkeit der Antworten schlägt sich daher auch in den Beiträgen nieder. Wir haben beispielsweise viele Ideen jenseits von konkreten Standorten, die wichtig und naheliegend sind. Tolle Ideen wie eine Hochzeitskirche mit angeschlossenem Standesamt, da könnte man meiner Meinung nach auch ohne IBA einfach sofort loslegen.
Was lässt sich noch erkennen?
Der Ideenwettbewerb hat schon heute sein Ziel erreicht, den Kopf freizumachen für neue Ideen. Wenn Kirchen beispielsweise Gemeindezentrum sein wollen, warum dann nicht auch mit weltlichen Funktionen wie einem angeschlossenen Paketzentrum oder dem Verkaufsraum für regionale Produkte. Das macht die Sache auch deshalb spannend, weil es dann auch Menschen in die Kirche zieht, die nicht christlich gebunden sind. Denn auch sie würden das Gebäude vermissen, wenn es nicht mehr da wäre.
Gab es auch kuriose Ideen?
Nennen wir sie lieber künstlerisch. Mir fällt dafür unter anderem eine Biotop-Kirche ein. Diese Idee unterstützt eine Öffnung der Kirche für Pflanzen- und Tiere. Für Fledermaus und Turmfalke könnten im Gebäude ja leicht entsprechende Lebensbedingungen geschaffen werden. Ähnliches gilt für die Bienenkirche. Dann erinnere ich mich noch an eine Wellness-Kirche. Die Kirche als ein Ort der Gesundheit also, was ja gar nicht so weit weg ist vom spirituellen Gehalt. Natürlich waren da auch solche Ideen, die zweifellos Diskussionen auslösen werden.
Haben sie ein Beispiel?
In einem eingereichten Film wurden statt der Wetterfahne auf der Kirche wechselweise ein Supermarktzeichen, ein Tankstellenlogo, die Wimpelkette eines Kindergartens und ein Halbmond gezeigt. So etwas wird Fragen aufwerfen.
Was halten Sie von solchen Ideen?
Wir müssen nicht um jeden Preis provozieren, andererseits verändert sich unsere Welt nun mal und einen Zuzug gibt es auch. Nehmen Sie die Hagia Sophia in Istanbul. Auch das war einmal eine christliche Kirche, die heute eine Moschee ist. Vielleicht sollten wir also etwas entspannter mit diesem Thema umgehen, das derzeit sehr unentspannt diskutiert wird.
Wie wird die IBA mit solchen Diskussionen umgehen?
Wir werden während der Ausstellungszeit übers Land fahren und sie führen. (Anm. d. Red.: Von Mai bis November 2017 werden alle eingereichten Vorschläge in einer Ausstellung in der Kaufmannskirche Erfurt gezeigt.) Der Querdenker-Wettbewerb heißt schließlich auch so, weil wir uns gestatten wollen, erst einmal quer zu denken und andere Gedanken überhaupt zuzulassen. Da wir die Kirchen nicht abreißen möchten, haben wir viel Platz für Experimente. Und auch wenn einige Ideen vielleicht nicht umgesetzt werden können, setzen sie womöglich etwas in Gang.
Apropos in Gang setzen: Die IBA möchte die fünf besten Ideen baulich umsetzen. Haben sie bereits Favoriten?
Die gibt es noch nicht. Selbst wenn, dürfte ich nichts verraten. Nur so viel: Fünf Projekte sind das, was wir bis 2023 leisten möchten. Das ist aber nur eine ungefähre Zahl. Wenn ein weiterer Vorschlag wirklich gut ist, könnten es auch sechs werden.
Nach welchen Kriterien werden die Projekte ausgewählt?
Die eingereichten Ideen sollten wirklich innovativ und in ihrer Gestaltung exzellent sein. Darüber hinaus sollten sie etwas Neues schaffen und den Anspruch der Nachhaltigkeit erfüllen. Wir streben Projekte an, die Bestand haben und weltoffen sind, die man aber gut mit Thüringen verheiraten kann.
Das Gespräch führte Peter Cott. Der Artikel wurde uns freundlicherweise von der OTZ zur Verfügung gestellt, wo er zuerst am 14.11.2016 erschien.
Ideenaufruf gestartet
Ab dem 19. März 2016 lief der Ideenaufruf ›STADTLAND:Kirche 2017‹, bei dem jeder Interessierte seine Nutzungsideen für Thüringer Kirchen einreichen konnte. Der Aufruf startete offiziell mit einer Auftaktveranstaltung in der Kaufmannskirche Erfurt. Etwa 70 Interessierte aus ganz Thüringen informierten sich dort über den Ablauf des Wettbewerbs. Die Teilnehmer führten eine rege Diskussion über die Herausforderungen von Kirchengemeinden und wie sie ungewöhnliche Nutzungsmöglichkeiten für ihre Kirchen finden können.
Das Projekt ›STADTLAND:Kirche‹ ist eine Kooperation der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und der IBA Thüringen, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Alle Informationen zum Ideenaufrauf auf www.querdenker2017.de.
Bundeskulturstiftung fördert künstlerisches Projekt ›STADTLAND:Kirche‹
Das Projekt ›STADTLAND:Kirche 2017‹ wird mit insgesamt 202.000 Euro durch die Kulturstiftung des Bundes gefördert. Das hat eine Jury der Bundeskulturstiftung in Halle/Saale entschieden.
Ausgehend von einem offenen Ideenaufruf sollen dabei Umnutzungsideen für 500 oft leerstehende Kirchengebäude gesammelt werden. Einzelne Beispiele für eine sinnvolle Nutzung, wie durch Umwidmung dieser Gebäude, werden im Rahmen der IBA Thüringen umgesetzt. Die Ergebnisse des Aufrufs wurden im Lutherjahr 2017 in Thüringen ausgestellt und in die ›Weltausstellung der Reformation‹ in der Lutherstadt Wittenberg einfließen.
„Wenn 2017 im Rahmen des Luther-Jubiläums 500 Jahre Reformation gefeiert werden, wird das Neu- und Umdenken über die Zukunft der evangelischen Kirchen von Thüringen eine weltweite Aufmerksamkeit finden“, so Elke Bergt, Projektleiterin bei der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. IBA Geschäftsführerin Dr. Marta Doehler-Behzadi ergänzte: „Das Projekt leistet einen Beitrag zur internationalen Kunst- und Kulturdiskussion im Umgang mit der großen gesellschaftlichen Frage des Leerstands von kulturhistorisch bedeutsamen Bauwerken ohne Nutzungsbedarf“.
Das Projekt ›STADTLAND:Kirche 2017‹ wird gemeinsam von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) und der IBA Thüringen betrieben.
Weitere Informationen auf der Internetseite der Kulturstiftung des Bundes.
Momentan keine Termine
- Regionale Partner aus Kirchengemeinden und Gemeinden vor Ort
- Ideengeber des Ideenaufrufs 2017
- Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie
- Diakonie Mitteldeutschland
- IBA Parkstad, Heidelberg und Basel
- Schirmherrschaft des Landesbischofs der EKM
- Veronique Faucheur, Oberkirchenrat Christian Fuhrmann, Florian Heilmeyer, Prof. Barbara Holzer, Jürg Montalta, Anne Schönharting, Dr. Barabra Steiner und Tom Unverzagt
- Dr. Dankward Guratzsch, Prof. Dr. Andreas Hoffmann, Dr. Stefan Krämer, Holger Reinhardt, Dr. Mathias Rein, Elke Bergt, Marcus Schmidt, Dr. Sonja Beeck, Jürgen Willinghöfer, Dr. Marta Doehler-Behzadi, Ulrike Rothe, Lisa-Marie Hottenrott und Oliver Weiland
Ulrike Rothe
Projektleiterin
Telefon +49 3644 51832-13
ulrike.rothe@iba-thueringen.de
- Artikel Raumplanung 4/2018
- Publikation ›500 Kirchen 500 Ideen‹, Jovis Verlag
- Publikation ›Die Reformationsdekade »Luther 2017« in Thüringen‹, Wartburg Verlag
- Dokumentation ›Reformation'en: KIRCHEN • WEITER • BAUEN' 2017‹
- Website Kirchbautag 2019
- Website Her(r)bergskirchen
- Fotodoku Gastgeberklub Ellrich
Prof. Dr. Thomas Erne