IBA Campus 2017 -
›1.500 Hektar Zukunft‹

Das Übermorgen denken

1.500 Hektar Zukunft – (Er-)Findung einer neuen Landschaftstypologie: Eine Landschaftstypologie die zukunftsgerichtet ist, die neue Sichtweisen zulässt, die auf einem nachhaltigen Umgang mit Agrarflächen beruht, die weiter geht als eine Diskussion über konventionelle Bewirtschaftung kontra Ökolandbau und eine neue Debattenkultur anregt. Was für eine Herausforderung an das Campus-Team 2017!

Mutig und fantasievoll haben sich die Campusteilnehmer:innen der Herausforderung gestellt und vier Szenarien entwickelt, wie die Land(wirt)schaft rund um Kannawurf in 30 oder 80 Jahren aussehen könnte. Das Thema gingen alle Beteiligten neugierig und teils ziemlich ungewöhnlich an, indem sie sich beispielsweise Fragen aus Sicht der Landschaft stellten: »Wann habe ich denn endlich Feierabend? Für wen hat meine Gestalt Relevanz? Wem gehöre ich?« Zudem war es den Campusleitungen und -teilnehmenden wichtig, im Vorfeld und bei der Ausführung der Planungsarbeit stichhaltige Informationen zum Naturhaushalt, Landschaftspotenzial und zur Nahrungsmittelversorgung in der Region um Kannawurf in Form räumlicher Geodatensätze miteinzubeziehen. Heraus kamen bei diesem Prozess am Ende Zukunftsentwürfe, bei denen allesamt Technologie eine wichtige Rolle spielt.

Mit den unterschiedlichen Szenarien ist es gelungen, sich jenseits der aktuellen Debatte zu bewegen, tatsächlich neue Denkmodelle zu kreieren und neue Landschaftstypologien zu entwerfen. Die Szenarien sind frei, basieren aber auf bereits heute absehbaren Trends, teilweise realitätsnah, teilweise überspitzt. Sie fordern zum Nachdenken auf, reflektieren die Gegenwart und geben Anstöße für die Zukunft. Und sie alle zeigen ein selbstverständliches Nebeneinander von globaler Verantwortung und regionalem Bewusstsein.



Business Matters – Der Turm als Landwirt
Simon Ebertz, Veronique Geier, Lydia Gorn

Dieses Szenario geht davon aus, dass die agrarischen Gunststandorte weltweit weiterhin sehr ungleich verteilt sein werden und der internationale Handel mit Agrarprodukten ein unverzichtbares Element zur Ernährungssicherung bleibt. Die Gemeinde Kannawurf, gelegen in einer der fruchtbarsten Regionen Deutschlands, soll daher zukünftig helfen, die Welternährung zu sichern. Weiterhin wird angenommen, dass es aufgrund der Digitalisierung der Arbeitswelten keine 40-Stunden-Woche mehr geben wird, die Menschen mehr Zeit für Familie, Freizeit und Erholung haben werden und der Landwirt auf dem Feld komplett ersetzt werden kann.

Über das Thüringer Becken werden großflächige Cluster gelegt, die intensiv bewirtschaftet der globalen Ernährung dienen sollen. Dazwischen bilden extensive Streifen ein ökosoziales Netz, das sich nach den regionalen Standortbedingungen, den Gewässern, den Dörfern und den Menschen ausrichtet. 

Die Feldarbeit wird vollautomatisiert und für das gesamte Thüringer Becken zentral gesteuert. Drohnen überwachen das Wachstum sowie das Düngen und Wässern der Feldfrüchte. Agrarroboter bringen Saat sowie Untersaat zum geeigneten Zeitpunkt aus und übernehmen das Ernten.

Ein multifunktionaler Turm ersetzt den Landwirt. Von weitem sichtbar präsentiert er als Landmarke das Thüringer Becken als globale Kornkammer und als hocheffiziente, vollautomatisierte Präzisionslandschaft.

Bubble Grid – Fluchtpunkt Exzellenz Metabolismus
Max Steverding, Katharina Wittke

»Mut zur Banane« war der Ansporn für dieses Szenario –ein Ausruf auf dem IBA Campus bei der Diskussion über die starke Nachfrage für heimische und historische Sorten im Gemüse-, Obst- und Getreideanbau einerseits und dem Einzug exotischer Nahrungsmittel in unsere Landwirtschaft und deren Auswirkungen auf das Landschaftsbild andererseits.

Vor zehn Jahren noch undenkbar, ziehen sich heute weite Sojafelder durch Deutschland. Speziell im Ökolandbau, ermöglicht durch den Klimawandel, ist heute der Anbau von etwa Aprikosen und Quinoa möglich. Für kritische Kund:innen werden so auch bei exotischen Produkten Regionalität, Demeter-Qualität, faire Arbeitsbedingungen und geringen Kohlenstoffdioxidverbrauch durch kurze Transportwege gewährleistet.

Das Szenario sieht Folgendes vor: Kannawurf konzentriert sich auf zwei nahrungsmittelerzeugende Produktionsketten. Einerseits übernimmt Kannawurf die großmaßstäbliche »Standardproduktion« für die drei umgebenden Metropolregionen (Leipzig/Halle, Göttingen und Jena/Weimar/Erfurt). Es erfolgt die Produktion großer Mengen heimischer Grundnahrungsmitteln wie Weizen. Andererseits sichern große Gewächshäuser, sogenannten ›Bubbles‹, den Anbau von nicht-heimischen Kulturen. Fremdländische Nahrungsmittel wie Kaffee könne so regional angeboten und die Abhängigkeitsverhältnisse vom Weltmarkt gelöst werden.

Die StadtLand-Verbindung zwischen Kannawurf und den Metropolregionen sichert die Versorgung der Städte, zeitgleich erhält Kannawurf im Gegenzug den Phosphor zur Düngung seiner Flächen aus den Städten.
 Das Szenario sichert so wichtige Wertschöpfungsketten nachhaltig in Deutschland.

Polymeer – Life in Plastic, it’s Fantastic
Anna Gold, Claudius Grehl, Leander Nowack

Demokratisierung und Bottom-up-Lösungen, die fortschreitende Globalisierung und die wachsende Biokunststoffindustrie sowie die Beliebtheit von Do-it-yourself-Konzepten in Gemeinden wie Kannawurf werden im Zusammenhang mit dem Auslaufen der Förderung von Biogas-Blockheizkraftwerken in den nächsten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Das Szenario ›Polymeer‹ sieht die Umwandlung der Biogasanlage in Kannawurf in eine Bioraffinerie vor und eine Wandlung der landwirtschaftlichen Flächen für den Anbau von nachwachsenden biogenen Stoffen.

Für die verschiedenen topographischen Gebiete werden drei Produktionszonen eingerichtet: schnell wachsende Pappeln und gewöhnliche Robinien in Kurzumtriebsplantagen auf den trockeneren Hügeln zur Ernte von Zellulose als Basis für technische Polymere; Hanf entlang der Hänge der Überschwemmungswiesen zur Bereitstellung von Zellulose und Ölen für Pharmazeutika und als Erosionsschutz; Mais, Bohnen und Kürbis in den Überschwemmungswiesen zur Herstellung von Säuren, Kohlenhydraten und Ölen als wichtige Zutaten für Lebensmittel und als Rohstoffe für die chemische Industrie.

130 Hektar der Landwirtschaft bleiben für die Produktion notwendiger lokaler Produkte für die Bewohner von Kannawurf reserviert und sollen die Selbstversorgung der Gemeinde in Zukunft sicher.

Versöhnung – Forward to Nature
Hisar Ersöz, Martina Hanusová, Britta Anna Tscherteu

Das Szenario ›Versöhnung‹ geht auf die archäologische Bedeutung der Region um Kannawurf ein. Die Annahme: die Landschaft spiegelt die Geschichte der Menschheit bis in die Gegenwart wider. So wurden Überreste des homo erectus in einem Nachbardorf gefunden, zwei mittelalterliche Festungen sind in der Landschaft prominent zu sehen, und über den Bergrücken verläuft ein Abschnitt mit Mauerwällen aus dem 6. Jahrhundert.

Die Schlussfolgerung: Jedes Zeitalter hat seine Spuren in der Landschaft hinterlassen und ihre Form, ihre Nutzung und unsere Wahrnehmung geprägt. Im Laufe der Evolution wird der Mensch die Landschaft immer wieder neu einbeziehen und ihrerseits beeinflussen.

Heute leben wir im Zeitalter des Transhumanismus und der Cyborgs. Das Szenario geht von einem nächsten Evolutionssprung des Menschen zum homo holensis aus – einem Hybriden, der teils Mensch, teils Maschine und teils Tier ist. Die Bedeutung für die Zukunft: In Kannawurf wird die intensiven Landwirtschaft enden, Pappel- und Birkenwälder werden bald die Hänge und Hügel der Landschaft bedecken. Das Nomadenleben wird an Attraktivität gewinnen und neue heilige Stätten des kulturellen Wandels und der Interaktion hervorbringen. Die Landschaft um Kannawurf wird sich frei nach ihrem Können entfaltet, bedingt allein durch Boden- und Klimavoraussetzungen. Als homo holensis, wird der Mensch wieder im Einklang mit der Natur leben.