Corona und der Umkehrschub ins Land

Corona und der Umkehrschub ins Land

Ein Kommentar von Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der IBA Thüringen

Die große kollektive Erfahrung der letzten Wochen heißt Abstand. Wir üben Solidarität durch soziale Distanz, eine sehr widersprüchliche Erfahrung. Der pandemiebedingte Ausnahmezustand lässt die Menschen neu über ihr Zuhause nachdenken und ob man eigentlich täglich zur Arbeit fahren muss. Die Verlangsamung des Arbeits- und Lebensalltags legt uns die Frage vor, ob in der Folge der Corona-Krise auch Chancen zu erkennen sind – zum Beispiel für ländliche Räume, die ja viele schon als Schrumpfungsterritorien abgeschrieben hatten.

In den Städten haben wir in den letzten Wochen Frei- und Grünräume als großartige Refugien des Öffentlichen erlebt. Das Frühlingswetter trug seinen Teil zu diesem kollektiven Spaziergang bei. Die Stadtöffentlichkeit bewegte sich in gelassener Distanz auf den Parkwegen, die Nachbarn wandelten aneinander vorbei wie auf dem Corso, Eltern spielten mit ihren Kindern Fußball und jeweils umeinander herum, die Hundebesitzer versammelten sich mit Mindestabstand, Sportler aller Fitnessstufen drehten ihre Runden. Was würden wir machen ohne die Parks und Gärten? Wenn es aus dem Corona-bedingten Ausnahmezustand und für die Stadt in Zeiten des Klimawandels eine große Erkenntnis aus diesem Frühjahr gibt, so diese, dass die grünen Infrastrukturen massiv an Bedeutung gewinnen müssen. Temperatursenken, Frischluftschneisen, Wasserreservoirs – das alles werden wir in die gebauten städtischen Zusammenhänge einschreiben und sie gleichzeitig als demokratische öffentliche Räume der Stadt nutzen. Die Stadt als Landschaft.

Und welche Talente bringen die ländlichen Räume mit, von denen Thüringen ja reichlich hat? Immer wieder betrachten manche Menschen das Land als Alternative zu beschleunigten Lebensweisen, abstrakten Arbeitsinhalten und dem Leben im hochverdichteten städtischen Kontext. Auf dem Land gibt es Freiraum im direkten wie auch übertragenen Wortsinn. Viele schätzen die Nähe zu Tieren und Pflanzen, Feld und Wald, Wasser und Wetter. Viele Menschen finden Erfüllung in ganz konkreten Tätigkeiten wie Pflanzen und Ernten, Hegen und Pflegen, Bauen und Umbauen, Kochen und Backen – irgendetwas macht daran glücklich.

Schon vor Corona kamen Berliner ins Schwarzatal und Leipziger ans Thüringer Meer. Sie wollen beides haben, Stadt und Land: die städtische Wohnung und die Datsche, den Landsitz in der Sommerfrische und die kleine Dependance in der Stadt. Stadt und Land funktionieren zusammen und ergänzen einander – auch wenn sich das in der Bevölkerungsstatistik nicht niederschlägt, sondern vor allem in den persönlichen Lebenskonzepten. Seit mehreren Jahren schaffen sogenannte ›Raumpioniere‹ ein gesellschaftliches Grundrauschen für diese Erzählung; Architekten aus Weimar ziehen nach Bedheim, im Schwarzatal bauen sie gemeinsam alte Ferienhäuser um, auf Schloss Tonndorf erhält die Gemeinschaft das historische Anwesen. Alle diese Beispiele erzählen nicht von Stadtfeindlichkeit, sondern von einer lebendigen Verbindung zwischen Stadt und Land. So entstehen lokale Mehrwerte auf dem Land, Infrastrukturen werden erhalten und wiederbelebt und es gibt neuartige (Rück-)Vernetzungen mit der Stadt, zum Beispiel in solidarischen Landwirtschaften oder kulturellen Projekten.

Niemand weiß, was die nächsten Tage, Wochen und Jahre bringen werden. Aber richtig ist gewiss, dass wir das Ländliche allgemein und ganz konkret die schönen ländlichen Räume in Thüringen nicht immer nur aus ihren Schwächen, sondern vielmehr aus ihren Ressourcen, Kapitalen und Talenten heraus wahrnehmen und entwickeln müssen. Heute belegt die kollektive Rosskur mit Telearbeit und Online-Kommunikation, Homeschooling und Wohnzimmerkonzerten, welchen Anschluss digitale Infrastrukturen möglich machen. Sie sind ein Gleichmacher zwischen den zentralen Orten und den peripheren Gegenden. Und sie lassen eine Ahnung aufkommen, dass sich die Gesellschaft nicht mehr immer weiter aus der Fläche zurückziehen muss, um sich schließlich in städtischen Zentren wiederzufinden, die dann am Überdruck leiden. Man könnte Einrichtungen für die Daseinsvorsorge mit hoher Qualität, Verbindlichkeit und engmaschig außerhalb der Zentren in ungewöhnlichen Betriebsformen ermöglichen. Dies versuchen die Partner der IBA Thüringen zum Beispiel mit dezentralen Gesundheitskiosken in Seltenrain oder einem regionalen BahnHofladen in Königsee. Natürlich braucht man das Internet an jeder Milchkanne, in der Folge erneuert das Land seine Funktion als Wohn-, Arbeits-, Urlaubs- und Wirtschaftsstandort, eine Rolle, die viele nicht mehr für möglich gehalten hätten. Wir sollten nur die Corona-Erfahrung für einen Umkehrschub nutzen, der auch das Land erreicht.